Darum geht’s – Informationen zum Projekt
Ausgangslage
Staatliche Behörden platzierten in der Schweiz bis weit ins 20. Jahrhundert jährlich Zehntausende von Kindern und Jugendlichen als kostenlose Arbeitskräfte in Pflegefamilien oder Heimen. Diese sogenannte Fremdplatzierung geschah in vielen Fällen nicht freiwillig. Das heisst, die Behörden entschieden, die Eltern hatten oftmals kein Mitspracherecht, die Kinder und Jugendlichen selbst schon gar nicht. In zahlreichen Fällen erlebten die fremdplatzierten Kinder und Jugendlichen körperliche und seelische Gewalt.
Obwohl schon früh Missstände bekannt geworden waren und es kritische Stimmen gegeben hatte, begann sich erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine breite Öffentlichkeit für dieses «dunkle Kapitel» der Schweizer Fürsorgegeschichte zu interessieren. In der Folge setzte eine gesellschaftliche und wissenschaftliche Aufarbeitung der Thematik ein.
Bislang war jedoch eine der Kernfragen der Fremdplatzierungsproblematik aus den wissenschaftlichen Debatten ausgeklammert worden: Was wurde im 20. Jahrhundert in der (medialen) Öffentlichkeit über das behördliche Vorgehen sowie die Lebensbedingungen der betroffenen Minderjährigen bekannt gemacht? Und genau bei dieser Frage setzte das Citizen-Science-Projekt an.
Ansatz der Citizen Science
Citizen Science oder partizipative Forschung bezeichnet die Beteiligung der Öffentlichkeit am wissenschaftlichen Forschungsprozess. Sogenannte Citizen Scientists oder Bürgerforscher:innen sind aktiv an Forschung beteiligt – in Zusammenarbeit mit Wissenschaftler:innen. Der Begriff «Bürger:innen» ist in diesem Zusammenhang weit gefasst und bezieht sich auf Menschen mit einem breiten Spektrum an Kenntnissen, Interessen und Fähigkeiten, die eine formale wissenschaftliche Ausbildung haben können oder auch nicht. Er steht im Gegensatz zu «Wissenschaftler:innen», die über eine formale akademische Ausbildung in dem spezifischen Forschungsbereich des Citizen-Science-Projekts verfügen und in akademischen oder anderen Forschungseinrichtungen arbeiten.
Das Ziel ist, dass Bürgerforscher:innen und Wissenschaftler:innen gemeinsam solides und neues wissenschaftliches Wissen generieren. Darüber hinaus will Citizen Science zu Demokratisierung und Offenheit der Wissenschaft beitragen. Forschung soll also ausserhalb des sprichwörtlichen «Elfenbeinturms» stattfinden.
Citizen Science im Projekt
Am Projekt beteiligt waren rund zwanzig sehr engagierte Bürgerforscher:innen, die in ihrer Freizeit oder auch im Rahmen von Forschungspraktika mitgearbeitet haben. Diese Personen hatten sich auf Aufrufe per Trailer-Video, Flyer oder Social Media gemeldet respektive sich für ein Praktikum angemeldet. Für das Projekt geworben hatte auch die Senior:innen-Universität Zürich . Der Kreis der Bürgerforscher:innen setzte sich einerseits aus Senior:innen und andererseits aus Student:innen zusammen. Der generationenübergreifende Austausch erwies sich für alle Beteiligten als bereichernd.
Geleitet wurde das Projekt von Franziska Oehmer-Pedrazzi, Philipp Hubmann und Michèle Hofmann. Loretta Seglias begleitete das Projekt als Supervisorin.
Die Gruppe, bestehend aus Bürgerforscher:innen, Projektleitung und Supervisorin, bildete das Projektteam. Dieses Team hat sich über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren regelmässig getroffen und gemeinsam eine Antwort gesucht auf die Frage, was die Schweizer Presse im 20. Jahrhundert über das Thema «Fremdplatzierung» berichtet hat.
Teil des Projekts waren ausserdem mehrere Schulprojekte und ein Seminar zum Thema «Bildung, Fürsorge und Zwang – Geschichte(n) der stationären Erziehung» an der Universität Zürich. Gymnasial- und Fachmittelschüler:innen aus Baden, Bern, Laufen und Zürich sowie Masterstudent:innen der Erziehungswissenschaft haben sich im Unterricht respektive im Seminar mit der Geschichte der Fremdplatzierung befasst und Zeitungsartikel recherchiert und diskutiert.
Zeitungsrecherche und -analyse
Die Bürgerforscher:innen, Schüler:innen und Student:innen haben nach einer Einführung zum methodischen Vorgehen zwei überregionale und auflagenstarke Schweizer Tageszeitungen recherchiert: die Neue Zürcher Zeitung und den Berner «Bund». Gesucht wurden Zeitungsartikel, die einen Bezug zur Thematik der Fremdplatzierung aufweisen.
Die grosse Menge an gedrucktem Papier verunmöglichte es, alle Ausgaben der beiden Zeitungen für das gesamte 20. Jahrhundert durchzusehen. Das Projekt konzentrierte sich deshalb auf vier Untersuchungszeiträume, die aufgrund von bestimmten Ereignissen, die für die Geschichte der Fremdplatzierung bedeutsam sind, als besonders vielversprechend schienen.
Die Ausgaben der Neuen Zürcher Zeitung wurden dem Projekt von der Zentralbibliothek Zürich im Original (d.h. als Printausgaben) zur Verfügung gestellt. Diese Ausgaben wurden vor Ort durchgeblättert. Die Ausgaben der Zeitung «Der Bund» wurden online (auf der Plattform https://www.e-newspaperarchives.ch ) durchgesehen. Trotz der Konzentration auf vier Zeiträume war es schliesslich nicht möglich, alle in diesen Jahren erschienenen Zeitungsausgaben durchzuarbeiten.
Beim Durchblättern der einzelnen Zeitungsausgaben war es das Ziel, in die Medienberichterstattung des 20. Jahrhunderts einzutauchen. Die Teilnehmer:innen sollten so einen konkreten Eindruck von dem historischen Kontext, in dem die Berichterstattung über Fremdplatzierung eingebettet war, erhalten.
Die recherchierten Zeitungsartikel wurden entweder als Fotos oder als PDF in einer gemeinsamen Datenablage abgespeichert. Im Anschluss an die Recherche haben die Bürgerforscher:innen ausgewählte Zeitungsartikel analysiert . Den Ausgangspunkt für ihre Analyse bildeten die folgenden Forschungsfragen:
(F1) Welche Themen und Ereignisse wurden im 20. Jahrhundert im Zusammenhang von Fremdplatzierung medial aufgegriffen?
(F2) Welche Akteur:innen bestimmten den medialen Diskurs?
(F3) Welcher Sprachgebrauch prägt die Zeitungsartikel? Wie wurde Fremdplatzierung bewertet? Auf welche Art wurde über die Fremdplatzierten gesprochen?
(F4) Gibt es journalistische Gattungen, in denen das Thema privilegiert aufgegriffen wird? Wie werden Fotografien und Illustrationen eingesetzt?
(F5) Inwiefern durchläuft die journalistische Berichterstattung über das Thema «Fremdplatzierung» in den genannten Kategorien (F1–F4) eine Wandlung im Untersuchungszeitraum?
Diese Fragen lassen sich in einer Formel zusammenfassen, die dem Projekt zur Medienberichterstattung über Fremdplatzierung von Minderjährigen in der Schweiz seinen Namen gibt: «Was war bekannt?»
Ergebnisse und Erfahrungen
Die im Rahmen des Citizen-Science-Projekts recherchierten Zeitungsartikel wurden quantitativ ausgewertet.
Die Bürgerforscher:innen haben ausgehend von den Forschungsfragen des Projekts bei der Analyse ausgewählter Zeitungsartikel eigene Themenschwerpunkte und z.T. auch zeitliche Schwerpunkte, die über die vier Phasen des Projekts hinausgehen, gesetzt. Als Ergebnis dieser Analyse sind sechzehn Texte entstanden, die facettenreich die Schweizer Medienberichterstattung über Fremdplatzierung im 20. Jahrhundert aufzeigen. Die Texte der Bürgerforscher:innen lassen sich in drei Rubriken einteilen: Fünf Beiträge befassen sich allgemein mit dem Thema «Fremdplatzierung» in der Medienberichterstattung , ein besonderer Fokus liegt dabei auf der Frage, welcher Sprachgebrauch die Zeitungsartikel prägte. Sieben Beiträge befassen sich mit der Berichterstattung über Heimunterbringung als eine Form von Fremdplatzierung. Und vier Beiträge widmen sich Medienberichten über Pflegefamilien als weitere Form der Fremdplatzierung.
Das Thema des Citizen-Science-Projekts, die Forschungspraktika und das Seminar «Bildung, Fürsorge und Zwang – Geschichte(n) der stationären Erziehung» bildeten auch Ausgangspunkte für drei Masterarbeiten am Institut für Erziehungswissenschaft.
Ziel des Projekts war es nicht nur, eine Antwort auf die Frage, was die Schweizer Presse im 20. Jahrhundert über das Thema «Fremdplatzierung» berichtet hat, zu geben, sondern ebenso, Erfahrungen mit Citizen Science zu sammeln und diese Erfahrungen zu dokumentieren.
Mehrere Bürgerforscher:innen schildern in Video-Interviews und einem Bericht ihre im Projekt gemachten Erfahrungen.
Drei Teilnehmer:innen haben ausserdem auf Instagram über einen längeren Zeitraum hinweg über das Projekt und von ihren Erfahrungen mit Citizen Science berichtet.
Im Dezember 2022 berichtete das Forschungsmagazin «Horizonte» in einer Ausgabe, die dem Thema Citizen Science gewidmet war, über das Projekt. Renata Loher Dülli wurde als eine von fünf Bürgerforscher:innen porträtiert.
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