«Verwahrloste Elemente» – sprachliche Gewalt in Zeitungsartikeln über Heim- und Verdingkinder in den 1920er- und 1930er-Jahren
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Sprache kann diskriminierend und verletzend sein, ohne dass man sich dessen bewusst ist. Ziel des Beitrags ist es, den Sprachgebrauch im Zusammenhang mit fremdplatzierten Kindern und Jugendlichen in der Berichterstattung in den 1920er- und 1930er-Jahren nachzubilden.
Um etwas mehr über die Gewalt in der Sprache zu lernen, habe ich den Sprachgebrauch über Heim- und Verdingkinder in der Neuen Zürcher Zeitung der 1920er- und 1930er-Jahre analysiert.
Der Sprachgebrauch im Zusammenhang mit karitativen Tätigkeiten ist durchwegs mit einer positiven Tonalität verbunden, sog. karitative Rhetorik, und die Herabsetzung der Bedürftigen wird kaschiert. Wenn Moral und Gesellschaftstauglichkeit nicht der Norm entsprechen, werden jedoch, bei immer noch positiver Tonalität, auch deutlich diskriminierende Wörter verwendet. Keine Sprachbarrieren sind erkennbar, wenn es um nicht konforme Gemeinschaften wie Jenische, Sinti und Roma geht. Über sie wird in höchstem Mass verletzend und mit negativer Tonalität berichtet.
Rubrik:Fremdplatzierung in den Medien
Untersuchungszeiträume:1920er- und 1930er-Jahre
Medium:Neue Zürcher Zeitung
Heute ist es etwas seltsam, daran zurückzudenken, mit welcher Arglosigkeit früher verletzende und diskriminierende Sprache verwendet worden ist. Als Schweizerin, die in den 1950er- und 1960er-Jahren aufgewachsen ist, gehörten für mich Begriffe wie «Neger», «Zigeuner», «Tubel», «Spinner», «Krüppel», «Bastarde» (uneheliche Kinder), «Vaganten», «Lumpen» (jegliche Art nicht konformer Menschen), «A(b)normale» zum Alltagsvokabular. Solche Wörter sind verwendet worden, obwohl man deren negative Konnotation kannte. Weil aber «alle» so sprachen, kümmerte man sich nicht weiter darum. Erst vor Kurzem habe ich im Tages-Anzeiger von einer repräsentativen Studie gelesen, die belegt, dass abwertende Gruppenbezeichnungen wie «Zigeuner», «Asylant» und «Jugo» nach wie vor verwendet werden und die Schweiz daher als «wenig sprachsensibel» einzustufen sei (Tages-Anzeiger, 22.05.2023).
Im Citizen-Science-Projekt «Was war bekannt?» habe ich mich daher entschieden, besonders diese Rücksichtslosigkeit im Sprachgebrauch von Zeitungsartikeln über Heim- und Verdingkinder zu erforschen, um ein Stück weit zu verstehen, wie sprachliche Gewalt funktioniert. Der Schwerpunkt meines Interesses lag auf Artikeln, die in den 1920er- und 1930er-Jahren in der Neuen Zürcher Zeitung publiziert worden sind. Untersucht habe ich sowohl negativ-abwertende als auch positiv-werbende «Tonalität».
Aufopfernde Mütter – ein Beispiel karitativer Rhetorik
Sprachliche Gewalt gegenüber bestimmten Personengruppen ist als solche manchmal nicht einfach zu identifizieren. So kann man zum Beispiel an Zeitungsartikeln zum Thema «Fremdplatzierung» erkennen, dass karitative Institutionen eine Rhetorik der solidarischen Nächstenliebe pflegen, die dabei hilft, die systematische Herabsetzung von Bedürftigen zu kaschieren. Da wohltätige Organisationen auf Spenden angewiesen sind, ist diese Marketingstrategie unverzichtbar. In einem Spendenaufruf aus der Neuen Zürcher Zeitung überrascht es deshalb wenig, wenn sich ein Sozialträger in ein möglichst positives Licht rückt. Entsprechend positiv liest sich der Spendenaufruf eines Kinder- und Mütterheims, der für die Versorgung von «armen, hilfebedürftigen Kindlein» um «Liebe und Güte der Spender» bittet (NZZ, 18.07.1923). Dort heisst es weiter:
«Nie ist umsonst um Kinderhilfe an unsere Schweizer appelliert worden. Es ist dies ein edler Zug, der weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt ist. Dieser Ruf der immer spendenden Liebe und Güte gibt uns Mut, an arme, hilfebedürftige Kindlein zu erinnern, an die Kleinen im schweizerischen Kinder- und Mütterheim in H.a.S. Es sind dies Säuglinge und Kinder bis zu drei Jahren. Viele der Kleinen sind illegitim, andere kommen aus ganz zerrütteten Familienverhältnissen heraus, Kinder denen keine Vatertreue wartet und die Mutter schwer kämpft um das tägliche Brot. Milde Hände und Herzen haben auch diesen Unglücklichen ein Heim bereitet, so dass sie vor Hunger und Kälte beschützt sind»(ebd.).
Unverheiratet ein Kind zu bekommen, galt lange Zeit als eine Schande. Sowohl die Mutter als auch das Kind wurden geächtet. Häufig wurde dies dem unmoralischen Lebenswandel der Eltern zugeschrieben. Ihre finanzielle, soziale und juristische Situation blieb unberücksichtigt. Die Rhetorik in dem Spendenaufruf fällt jedoch aus Werbezwecken relativ positiv aus. Bis zu einem gewissen Mass solidarisiert sich der Text sogar mit den in Not geratenen Frauen. Dies wird unterstrichen, wenn von einer aufopferungsvollen Mutter gesprochen wird, die «schwer kämpft um das tägliche Brot» (ebd.).
Grund für entstehende Notlagen sind allerdings strukturelle Ungleichheiten im Geschlechterverhältnis von Mann und Frau. Rein juristisch ist es zu diesem Zeitpunkt alleinerziehenden Müttern nicht gestattet, ihre Kinder eigenständig aufzuziehen. Geschweige denn, dass dies ihnen bei den geringen Löhnen überhaupt möglich wäre. Doch selbst wenn die Sicherung der materiellen Versorgung hätte gelingen können, wurde es alleinstehenden Müttern nicht zugetraut, das Kind – wie es der Artikel suggeriert – ohne «Vatertreue» aufzuziehen. Die mutmassliche Unvollständigkeit von Familien wird von gemeinnützigen Organisationen öffentlichkeitswirksam als Legitimation für die Inobhutnahme «illegitimer» Kinder genutzt. Für die Heranwachsenden selbst war der Status, «illegitim» geboren zu sein, eine grosse Bürde und konnte einen erheblichen Einfluss auf den weiteren Lebensweg haben.
Ganz ähnlich gestaltet sich die Situation von Scheidungskindern. In einem Bericht der Neuen Zürcher Zeitung (01.04.1938) wird aus dem Referat einer Fürsorgerin des Städtischen Jugendamtes zitiert, dass auch für Scheidungskinder «die Heimversorgung oft als günstigste Lösung» in Betracht zu ziehen sei. Die Trennung der Eltern werde von den Behörden u.a. als «fehlende gegenseitige Achtung» gewertet und deute auf «krassen Egoismus», eine «erschütterte Sexualmoral» und «mangelnden Willen der Eltern, gegen Fährnisse des Schicksals zu kämpfen» (ebd.).
«Verwahrloste» in der Öffentlichkeit: positive Tonalität, negative Grundeinstellung
In den Zeitungsartikeln der 1920er- und 1930er-Jahre lassen sich auch vereinzelte Beispiele einer dezenten Akzentverschiebung in der Rede über Verding- und Heimkinder beobachten. So finden sich Ansätze einer kritischen Auseinandersetzung mit dem eigenen Handeln im Bereich der Fremdplatzierung. In einem eingesandten Beitrag in der Neuen Zürcher Zeitung wurde schon 1926 zu einer sorgfältigen Überwachung der «Versorgung» von Kindern und Jugendlichen aufgefordert:
«Ohne solche Prüfung und Kontrolle sollte kein Kind placiert [sic] werden. […] Bei der Beurteilung der Pflegestelle sind nicht nur die Personen der Pflegeeltern, sondern alle Umstände in Betracht zu ziehen, die die erziehliche Entwicklung des Pflegekindes beeinflussen können. Eine fortlaufende Beaufsichtigung aller Pflegeverhältnisse kann und muss überall durchgeführt werden» (NZZ, 07.05.1926).
Charakteristisch für die karitative Rhetorik ist es, eine Sprache mit positiver Tonalität zu pflegen, gleichzeitig aber eine ablehnende Haltung gegenüber den Lebensweisen der Betroffenen einzunehmen. Der Konsens lautet: «Alle Kinder, die ausserhalb eines Familienverbandes aufwachsen müssen, und alle von der Natur in irgendeiner Hinsicht Benachteiligten, erfordern unsere ganze Fürsorge» (NZZ, 25.11.1937). Der auch von kirchlicher Seite angestrebte «soziale Einbau [aller Individuen] in die Gesellschaft» (NZZ, 17.09.1937) sowie die Absicht fürsorgerischer Organisationen, «Pfleglinge zu brauchbaren Menschen» heranzuziehen (z.B. Der Bund, 15.04.1926), erhalten dadurch Unterstützung. Auf den Willen der Minderjährigen wird dabei keine Rücksicht genommen. Die despektierliche Haltung der Sozialträger gegenüber ihrer Klientel und deren Herkunftsmilieu macht sie blind für Lebensmodelle, die vom klassischen Familienbild abweichen.
Greifbar machen die Zeitungsartikel auch den Selektionsmechanismus innerhalb der karitativen Einrichtungen. Sie gehen in den 1920er-Jahren mehr und mehr dazu über, zwischen «Erziehbaren» und «Schwererziehbaren» zu unterscheiden. Schwererziehbare werden auch in Institutionen von Pro Infirmis «versorgt». Sie werden als Subkategorie von Problemjugendlichen ausgesondert, da man sich dadurch für die restliche Gesellschaft ein besseres Lern- und Arbeitsklima verspricht. So äussert sich der Leiter des Lehrlingsheims Obstgarten in Zürich stolz, dass nach seinen Lehrlingen gut geschaut wird und dass sie in vorzüglicher Gemeinschaft zusammenleben. Dafür sorgt sein unbedingtes Credo: «Aber sittlich verwahrloste Elemente und Schwererziehbare werden von diesem jugendlichen Kreis ferngehalten» (NZZ, 10.03.1938).
Massive Abwertung der Fahrenden
Kinder von Fahrenden waren besonders gefährdet, ihren Familien weggenommen zu werden. 1926 gründete die Stiftung Pro Juventute auf Initiative Alfred Siegfrieds (1890–1972) das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse». Durch die systematische Auflösung jenischer Familien sollte die fahrende Lebensweise beseitigt werden, die den Initiant:innen des «Hilfswerks» als Grund für die «Verwahrlosung» der Kinder und als Gefährdung der Gesellschaft galt. Bis zu der von den Medien forcierten Auflösung des «Hilfswerks» im Jahr 1973 nahm Pro Juventute Hunderte Kinder fahrender Eltern weg (Galle, 2016, S. 53–105).
In den 1920er- und 1930er-Jahren ist in der Neuen Zürcher Zeitung über Fahrende insgesamt wenig zu lesen. Wenn von ihnen berichtet wird, dann allerdings mit verächtlicher Sprache und negativer Tonalität. Veranschaulicht werden kann diese feindliche Haltung an einer Warnung des Verbandes Schweizerischer Musikinstrumentenhändler. Sie baut die Drohkulisse einer «Wiederkehr der dunkelhäutigen, schwarzhaarigen Zigeuner» auf, nachdem Jenische, Sinti und Roma seit dem Ersten Weltkrieg aus der Schweiz weitgehend verschwunden seien (NZZ, 04.05.1926).
«Harmlose Menschenkinder mit einem Geigenkasten unter dem Arm sehen sich jetzt auf der Strasse plötzlich einem schwarzäugigen, krummnasigen Meistergeigenapostel gegenüber, der mit nie versagender Geduld seine Ware preist und öfters die Leute mit seiner impertinenten Händlerbeharrlichkeit auf die unangenehmste Weise belästigt» (ebd.).
Viele Menschen des letzten Jahrhunderts haben den «Zigeunern» nie so richtig über den Weg getraut. Auch in den Zeitungsartikeln in den 1920er-Jahren kommt diese abschätzige Einstellung unverblümt zum Vorschein. In einem Leserbrief mit dem Titel «Vagantenkinder » will der Verfasser der Leserschaft von einem «Kinderelend besonderer Art» berichten (NZZ, 13.06.1926). Der Verfasser war Alfred Siegfried, Gründer und langjähriger Leiter des «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse».
Siegfried gründet seine Ausführungen auf Zuschriften und Bilder, die er von anderen Personen erhalten habe. Statt einfach die prekären Verhältnisse der Jenische, Sinti und Roma zu schildern, geben ihm diese Quellen Anlass zu einer pauschalen Verunglimpfung:
«Bilder unbeschreiblichen körperlichen und geistigen Elends steigen vor unseren ungläubigen Augen auf; wir müssen zusehen, wie ganze Reihen von Menschen, von Generation zu Generation unfehlbar dem gleichen Elend, der gleichen moralischen Zerrüttung anheimfallen; wie kleine, hilflose Kinder, unschuldig und liebebedürftig, wie alle andern, von Geburt auf dazu bestimmt sind, in der Atmosphäre von Schmutz und Verbrechen, in die sie hineingesetzt worden sind, leiblich und seelisch zugrunde zu gehen. Bettelnd und stehlend wachsen sie auf; von Erziehung in Elternhaus oder Schule ist keine Rede» (ebd.).
An der moralischen Verwerflichkeit lässt der Artikel keinen Zweifel. Der Verfasser stigmatisiert die Jenische, Sinti und Roma als ein Volk von «Vaganten, Trinkern, Dirnen», das in chronischer «Unsittlichkeit und unbeschreiblicher Verwahrlosung» lebe. Und er nutzt dazu klare eugenische und rassistische Begrifflichkeiten.
Ein Freund des Autors schildert diesem seine Erfahrungen mit «zerlumpten Kindern», die sich «um Brotresten balgen» und nicht zur Schule gingen (ebd.). Angesichts dieses Leids appelliert der Autor an die Leser:innen, nicht wegzusehen: « […] in die Schule schickt sie [die Kinder] niemand; die Behörden sind froh, wenn sie so wenig wie möglich mit dem ‹Vagantenpack› zu tun haben» (ebd.). Er macht weiterhin in der möglichst frühzeitigen Erziehungsintervention das einzig hilfreiche Mittel aus, um der sozialen Notlage beizukommen. Der Staat habe rasch «in die Verhältnisse dieser Familien sanierend einzugreifen» (ebd.). Und weiter schreibt Siegfried: «Es müsse trotz Geldmangel, trotz schlechten Erfahrungen, trotz Angst vor erblicher Anlage versucht werden, wenigstens die Kinder zu retten» (ebd.).
Quellen
Balmer, Dominik & Vögeli, Patrick: Diskriminierende Wörter sind noch weit verbreitet, in: Tages-Anzeiger, 22. Mai 2023, S. 1.
Balmer, Dominik & Vögeli, Patrick: Von «Zigeuner» bis «Jugo»: So redet die Schweiz, in: Tages-Anzeiger, 22. Mai 2023, S. 4.
Birrer, Raphaela: Es geht natürlich auch um Macht, in: Tages-Anzeiger, 22. Mai 2023, S. 2.
-c-: 372 Kinder, in: Der Bund, Nr. 158, 15. April 1926, S. 3 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=DBB19260415-02.2.20
Frauchiger, F.: Von der kirchlichen Aufgabe im Staat, in: Neue Zürcher Zeitung, Abendausgabe Nr. 1668, 17. September 1937, S. 1 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=NZZ19370917-03.2.31.1
Galle, Sara: Kindswegnahmen. Das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» der Stiftung Pro Juventute im Kontext der schweizerischen Jugendfürsorge. Zürich: Chronos 2016.
gh: Lokales: Erziehungsgesellschaft Zürich, in: Neue Zürcher Zeitung, Morgenausgabe Nr. 2126, 25. November 1937, S. 2 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=NZZ19371125-01.2.41
gh: Zehn Jahre Lehrlingsheim Obstgarten, in: Neue Zürcher Zeitung, Morgenausgabe Nr. 428, 10. März 1938, S. 2 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=NZZ19380310-01.2.21
gh: Das Kind in der Ehescheidung, in: Neue Zürcher Zeitung, Abendausgabe Nr. 587, 1. April 1938, S. 2 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=NZZ19380401-03.2.45
Ohne Autor:in: Kinderheim und Mütterheim Hergiswil, in: Neue Zürcher Zeitung, Zweites Morgenblatt Nr. 980, 18. Juli 1923, S. 2 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=NZZ19230718-01.2.24
Ohne Autor:in: Pflegekinder-Fürsorge, in: Neue Zürcher Zeitung, Mittagsausgabe Nr. 733, 7. Mai 1926, S. 2 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=NZZ19260507-02.2.41
Siegfried, A.: Vagantenkinder, in: Neue Zürcher Zeitung, Erste Sonntagsausgabe Nr. 951, 13. Juni 1926, S. 2 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=NZZ19260613-01.2.45
Verband Schweizerischer Musikinstrumentenhändler: Zaubergeigen, in: Neue Zürcher Zeitung, Morgenausgabe Nr. 710, 4. Mai 1926, S. 2 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=NZZ19260504-01.2.26
Autorinnenporträt
Monika Engels, geb. 1951, ehemalige Privatdozentin in veterinärmedizinischer Virologie, forschte als Bürgerforschende im Projekt «Was war bekannt?». Ihre Interessen liegen im Bereich Naturwissenschaften allgemein, Wandern in der Natur, Bücher, klassische Musik.
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