Misshandlungen von Pflege- und Heimkindern
Fazitbox
Im Beitrag geht es um Misshandlungen an fremdplatzierten Kindern, wobei vor allem auf die Arten von Misshandlungen, den Täter und das Opfer, die heiminterne Regelung von Beschwerden sowie auf die Rolle der Medien fokussiert wird. Dazu wurden Artikel aus der Neuen Zürcher Zeitung und dem «Bund» über alle vier im Projekt fokussierten Phasen hinweg beigezogen, welche Misshandlungen an fremdplatzierten Kindern thematisieren. Insgesamt zeigt sich, dass erstens «Unzucht» als häufigste Misshandlung aufzufinden ist, zweitens in den Artikeln hauptsächlich auf die männlichen Täter fokussiert wird und die Auswirkungen auf die Opfer kaum thematisiert werden und drittens die Beschwerden über Missstände heimintern geregelt und meistens erst dann überprüft wurden, wenn sie an die Öffentlichkeit und die Medien gelangten.
Rubrik: Fremdplatzierung in den Medien
Untersuchungszeiträume: 1923–1928, 1937–1944, 1968–1972, 1974–1981
Medien: Neue Zürcher Zeitung, «Der Bund»
Isolation, Lieblosigkeit, Arbeitszwang, Bestrafungen, körperliche Misshandlungen und sexueller Missbrauch waren in Heimen und Pflegefamilien keine Seltenheit. Das zeigen nicht nur Berichte von ehemaligen Heim- und Pflegekindern (Lengwiler, 2017, S. 8; Lengwiler et al., 2013, S. 36). Auch in den analysierten Zeitungsartikeln des Forschungsprojektes sind Misshandlungen in acht Artikeln Gegenstand der Berichterstattung: So wird beispielsweise in einem Zeitungsartikel aus dem Jahr 1941 (Phase 2) die Körperverletzung eines Pflegekindes durch die Pflegeeltern thematisiert (Der Bund, 30.06.1941). Die Erwähnung solcher Fälle in den Medien ist nicht zufällig, denn in dieser Phase gerieten vermehrt Heim- und Pflegeskandale an die Öffentlichkeit via Zeitungsberichte, welche unter anderem auch Erzählungen von ehemaligen Pflege- und Verdingkindern abdruckten (Lengwiler et al., 2013, S. 36). Die entsprechende Kritik scheint jedoch vielmehr vereinzelt statt strukturell ausgeübt worden zu sein. Zwischen 1968 und 1972 (Phase 3) und 1974 bis 1981 (Phase 4) wiederum werden vermehrt Fälle sexuellen Missbrauchs angesprochen (Der Bund, 11.07.1969; Der Bund, 06.09.1970; NZZ, 20.08.1971; Der Bund, 12.11.1971; Der Bund, 09.02.1972; Der Bund, 30.10.1976), was mit der Kritik am Heim- und Pflegekinderwesen rund um die 68er-Bewegung in Verbindung gebracht werden kann. Wirksame Reformen und eine landesweite Pflegekinderaufsicht waren erst 1978 durch die Verordnung über die Aufnahme von Pflegekindern (PAVO) im Zivilgesetzbuch möglich (Zatti, 2015, S. 25; Zimmermann-Jermann, 1985 zitiert nach Huonker, 2014, S. 60). Zuvor waren die Kontrolle und die Aufsicht über das Heim- und Pflegekinderwesen kantonal geregelt und die Umsetzung lag meist in den Händen kommunaler Vormundschafts- und Armenbehörden. Sie konnten diese Aufgaben delegieren, z.B. an spezielle Gremien – in die auch Autoritätspersonen wie Pfarrer Einsitz nahmen – oder private und kirchliche Organisationen wie Pro Juventute (Huonker, 2014, S. 60, Leuenberger et al., 2011, S. 48, 58, 80, 87; Leuenberger/Seglias, 2015, S. 219ff.; Rietmann, 2017, S. 123). Entsprechend waren Kontrolle und Aufsicht über das Heim- und Pflegekinderwesen kaum eine neutrale Angelegenheit.
Infobox: Verordnung über die Aufnahme von Pflegekindern (PAVO) 1978
Seit dem 19. Jahrhundert findet sich in verschiedenen Gesetzen der Anspruch zu Kontrolle und Aufsicht von Pflege- und Heimkindern. Kantonale Armengesetze, später auch zahlreiche kantonale Einführungsgesetze zum Schweizerischen Zivilgesetzbuch, sahen ab 1912 eine gezielte Aufsicht und Kontrolle von Kindern und Jugendlichen vor, die nicht bei ihren Eltern lebten. Die Umsetzung liess lange auf sich warten. Die zuständigen Kantone waren zurückhaltend und es dauerte oft Jahrzehnte bis zur Umsetzung.
Wenn behördliche Aufsichtsgremien bestimmt wurden, dann beruhten diese nicht selten auf Freiwilligenarbeit, was ihre Durchsetzungskraft schwächte.
1978 trat die Verordnung über die Aufnahme von Pflegekindern (PAVO) in Kraft, dies auf der Grundlage des neuen Kindsrechts. Sie regelte erstmals gesamtschweizerisch die Kontrolle und die Aufsicht von Pflegeplätzen. Die PAVO führte zudem eine Bewilligungspflicht und damit eine Überprüfung der Pflegeeltern und Heimleitungen vor einer Fremdplatzierung ein (vgl. Leuenberger et al., 2011, S. 54–56).
Arten von Misshandlungen
In den acht untersuchten Artikeln sind Beispiele von «sittlichem Vergehen» (NZZ, 25.02.1925), «Unzucht» (Der Bund, 06.09.1970; Der Bund, 12.11.1971; Der Bund, 09.02.1972; Der Bund, 30.10.1976), Körperverletzung (Der Bund, 30.06.1941) und nicht genauer definierter Misshandlung (NZZ, 20.08.1971) sowie eine Statistik zu Verfehlungen (Der Bund, 11.07.1969) aufzufinden. «Unzucht» erscheint dabei als häufigste Misshandlung, welche ab Phase 3 vorkommt. Dabei bleibt unklar, ob neben Mädchen auch Knaben betroffen waren. In den Fällen von «Unzucht» ist auffallend, dass jeweils auf das psychiatrische Gutachten des Täters eingegangen wird, bei körperlicher Gewalt wird jedoch der psychische Zustand nicht thematisiert. Zudem wird bei «Unzuchtfällen» bedeutend häufiger genauer auf die Misshandlung und die Umstände, die Täterschaft sowie das Gerichtsverfahren und das Urteil eingegangen. Die intensivere Thematisierung von Misshandlungen könnte dabei auf die strukturelle Kritik am Pflege- und Heimwesen in dieser Phase zurückzuführen sein. Dabei stellt sich jedoch die Frage, welche Kriterien für die Bestimmung einer Misshandlung beigezogen und wie die Zahlen erfasst wurden.
Täter und Opfer
Die Täter von Misshandlungen sind gemäss den untersuchten Artikeln mehrheitlich männlich und verfügen zum Teil über ein gewisses Prestige, wie zum Beispiel ein Politiker, das Oberhaupt einer religiösen Gemeinschaft oder ein Betriebsleiter eines Erziehungsheims. Daneben werden auch ein Adoptivvater, ein Stiefvater und ein Grossvater bzw. ein Pflegevater als Täter identifiziert, die Misshandlungen an Heim- und Pflegekindern und Pflegebefohlenen verübt haben. In einigen untersuchten Artikeln werden trotz Misshandlung die positiven Eigenschaften des Täters hervorgehoben. Zudem wird kaum die Auswirkung der Misshandlung auf die Opfer thematisiert und in seltenen Fällen wird die Tat fast schon bagatellisiert. Diese Aspekte zeigen sich am Beispiel des Artikels rund um einen Basler Regierungsrat, dem «sittliches Vergehen» an Waisenhausmädchen vorgeworfen und dessen Rücktritt gefordert wird:
«Am 29. April 1923 ist dann bei Anlass der Gesamterneuerung der Regierung [...] [Herr X] ehrenvoll bereits im ersten Wahlgang in die Regierung gewählt worden. Die Erwartungen, welche damals von bürgerlicher Seite in die Intelligenz und in die fachmännische Tüchtigkeit […] [von Herrn X] als Vorsteher des wichtigen Baudepartements und des Strassenbahnwesens gesetzt wurden, hat dieser in der kurzen, nicht ganz zweijährigen Regierungstätigkeit nicht enttäuscht. Umso schmerzlicher muss empfunden werden, dass bei der vorbildlichen Amtsführung, die selbst von den roten Gegnern nicht angetastet werden konnte, der private Lebenswandel zu wünschen übrig liess. Die peinliche Angelegenheit wird auch nach dem Abgang […] [von Herrn X] nicht so rasch zur Ruhe kommen» (NZZ, 25.02.1925).
Auf das genauere Vergehen wird in den kommenden Zeitungsartikeln nicht mehr eingegangen. Nach kurzer Zeit wird das Verfahren gegen den Regierungsrat eingestellt (Der Bund, 27.02.1925). Gemäss dem Bericht der Untersuchungskommission liege keine strafbare Handlung vor, jedoch gewisse Unkorrektheiten (Walliser Bote, 28.02.1925). Genauere Ausführungen dazu werden jedoch nicht gemacht. Die darauffolgenden Artikel behandeln hauptsächlich nur noch die Nachfolge des zurücktretenden Regierungsrates, jedoch nicht mehr dessen Vergehen.
Insgesamt liegt der Fokus der Zeitungsartikel hauptsächlich bei den Tätern und ihren Verfehlungen; die Opfer, die Auswirkung der Misshandlungen auf sie und was anschliessend mit ihnen passiert, werden kaum erwähnt. Es wird lediglich in einem «Fall» genannt, dass das 6-jährige Pflegekind aufgrund der Misshandlung mit einem Lederriemen durch die Pflegeeltern drei Monate im Spital verbracht hat (Der Bund, 30.06.1941). Diese Nichtberücksichtigung der Opfer in den Artikeln widerspiegelt sich im gesamtgesellschaftlichen Phänomen bis in die 1960er-Jahre: Den Opfern wurde selten Gehör geschenkt. Ihr Opferstatus galt zudem als Zeichen von Schwäche. Meist wurde ihnen auch eine Mitschuld unterstellt (Dissler et al., 2019, S. 131; 189). Entsprechend erhielten sie kaum Unterstützung und Solidarität (Goltermann, 2017, S. 178–196). Interventionen nach potenziell traumatischen Ereignissen, wie beispielsweise Psychotherapie oder Nachbetreuungsprogramme, wurden erst um die 1980er-Jahre herum durchgeführt (Hausmann, 2006, S. 14f.). Des Weiteren wurde den Opfern oft keine Glaubwürdigkeit geschenkt und ihre Anliegen wurden nicht immer ernst genommen (Dissler et al., 2019, S. 132). Der vernachlässigende Umgang mit den Opfern kann damit verbunden werden, dass den Kindern und Jugendlichen aufgrund ihres Alters kein mündiges Verhalten zugeschrieben wurde (Lengwiler, 2017, S. 8).
Heiminterne Regelung von Beschwerden und Medien
Eine Strategie von Heimen war es, Beschwerden über Missstände intern zu regeln und das involvierte Personal zu schützen (Dissler et al., 2019, S. 187). Eine Überprüfung der Beschwerden wurde erst dann veranlasst, wenn Informationen die Öffentlichkeit und die Medien erreichten, wenn also das Image des Heimes gefährdet war (ebd., S. 187; 189). Auch wenn Beschwerden an die Öffentlichkeit gelangten, konnte den Opfern in einigen Fällen die Glaubwürdigkeit abgesprochen werden: Mittels offenen Briefs der sogenannten Heimkampagne in der Zuger Presse wurden 1971 der Anstalt Uitikon Misshandlungen und ungerechte Behandlung der Zöglinge vorgeworfen (NZZ, 20.08.1971). Trotz Anschuldigungen wies der Zürcher Justizdirektor Dr. Arthur Bachmann die Angriffe zurück (ebd.). Die Lebensbedingungen der fremdplatzierten Kinder und Jugendlichen veränderten sich trotz zunehmender öffentlicher Aufmerksamkeit auf ihre Situation lange Zeit nicht. Zu sehr war die Kultur des Wegschauens etabliert (Dissler et al., 2019, S. 131/132; 189).
Infobox: «Heimkampagne»
Die Forderungen der 68er-Bewegung nach mehr individueller Lebensgestaltung und für eine breitere gesellschaftliche Mitbestimmung flossen auf unterschiedliche Weise auch in die Praxis der Fremdplatzierung von Kindern und Jugendlichen ein. Medial besonders sichtbar wurde die zunehmende öffentliche Kritik an den hierarchisch und autoritär geführten «Erziehungsheimen» bei der sogenannten Heimkampagne aus Deutschland, die Anfang der 1970er-Jahre auch in der Schweiz Wirkung zeigte. Sie führte zu Reformen im Heimwesen, beispielsweise indem individuelle Bedürfnisse der Jugendlichen stärker gewichtet wurden (vgl. Leuenberger & Seglias, 2015, S. 346–349).
Quellen
ag: Brutale Pflegeeltern verurteilt, in: Der Bund, Nr. 298, 30. Juni 1941, S. 7 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=DBB19410630-01.2.35.2
fkb: Noch rund 3800 Pflegekinder im Kanton Bern. Zunahme der Verfehlungen an Pflegekindern, in: Der Bund, Nr. 159, 11. Juli 1969, S. 7 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=DBB19690711-01.2.13.4
fkb: Schwachsinnige Stieftochter missbraucht, in: Der Bund, Nr. 207, 6. September 1970, S. 11 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=DBB19700906-01.2.21.6
fkb: Komplizierter Fall. Unzuchtaffäre vor den oberaargauisch-emmentalischen Assisen, in: Der Bund, Nr. 265, 12. November 1971, S. 13 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=DBB19711112-01.2.23.2
mpw: Sieben Jahre hinter Schloss und Riegel. Urteil gegen Paul Baumann über dem Antrag des Staatsanwaltes, in: Der Bund, Nr. 255, 30. Oktober 1976, S. 19 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=DBB19761030-01.2.33.1
Ohne Autor:in: Baselstadt, in: Neue Zürcher Zeitung, 25. Februar 1925, Morgenausgabe Nr. 301, S. 1/2 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=NZZ19250225-01.2.21
Ohne Autor:in: Und bei uns?, in: Walliser Bote, Nr. 17, 28. Februar 1925, S. 2 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=WAB19250228-01.2.9
sda: Zug und die Zürcher «Heimkampagne», in: Neue Zürcher Zeitung, Morgenausgabe Nr. 385, 20. August 1971, S. 14 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=NZZ19710820-01.2.24.9
sda: Unzucht in Erziehungsheim, in: Der Bund, Nr. 33, 9. Februar 1972, S. 29 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=DBB19720209-01.2.34.6.3
Sg.: Basler Brief, in: Der Bund, Nr. 87, 27. Februar 1925, S. 3 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=DBB19250227-01.2.18
Literatur
Dissler, Noemi, Germann, Urs, Gumy, Christel, Odier, Lorraine & Schneider, Laura: Organisierte Willkür. Administrative Versorgungen in der Schweiz 1930–1981. Schlussbericht Unabhängige Expertenkommission (UEK) Administrative Versorgungen. Zürich: Chronos 2019.
Goltermann, Svenja: Opfer. Die Wahrnehmung von Krieg und Gewalt in der Moderne. Frankfurt am Main: S. Fischer 2017.
Hausmann, Clemens: Einführung in die Psychotraumatologie. Wien: utb 2006.
Huonker, Thomas: Er muss, so hart das klingen mag, die Familiengemeinschaft auseinanderreissen. Politiken des Eingreifens im schweizerischen Fürsorgebereich aus historischer Sicht, in: Birgit Bütow, Marion Pomey, Myriam Rutschmann, Clarissa Schär & Tobias Studer (Hg.): Sozialpädagogik zwischen Staat und Familie. Alte und neue Politiken des Eingreifens. Wiesbaden: Springer VS 2014, S. 49–71.
Lengwiler, Martin: Der strafende Sozialstaat. Konzeptuelle Überlegungen zur Geschichte fürsorgerischer Zwangsmassnahmen [Working Paper]. UEK, Unabhängige Expertenkommission 2017.
Lengwiler, Martin, Hauss, Giesela, Gabriel, Thomas, Praz, Anne-Françoise, & Germann, Urs: Bestandesaufnahme der bestehenden Forschungsprojekte in Sachen Verding- und Heimkinder. Bericht zuhanden des Bundesamts für Justiz EJPD. Basel 2013.
Leuenberger, Marco, Mani, Lea, Rudin, Simone & Seglias, Loretta: «Die Behörde beschliesst» – zum Wohl des Kindes? Fremdplatzierte Kinder im Kanton Bern 1912–1978. Baden: hier + jetzt 2011.
Leuenberger, Marco & Seglias, Loretta: Geprägt fürs Leben. Lebenswelten fremdplatzierter Kinder in der Schweiz im 20. Jahrhundert. Zürich: Chronos 2015.
Rietmann, Tanja: Fürsorgerische Zwangsmassnahmen. Anstaltsversorgungen, Fremdplatzierungen und Entmündigungen in Graubünden im 19. und 20. Jahrhundert. Chur: Kommissionsverlag Desertina 2017.
Zatti, Kathrin Barbara: Das Pflegekinderwesen in der Schweiz. Analyse, Qualitätsentwicklung und Professionalisierung. Bundesamt für Justiz 2005.
Autorinnenporträt
Sandra Stöckli, Masterstudentin Erziehungswissenschaft an der Universität Zürich, arbeitet als Hilfsassistierende im Projekt «Was war bekannt?». Ihre Interessen liegen im Bereich Sonderpädagogik und Historische Kindheitsforschung.
Link zu diesem Artikel: Deep-Link wird hier generiert