Das Sprachspiel der Berichte über Heimeintritte und Fremdplatzierungen in NZZ und «Bund»
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Im Artikel geht es um die Art und Weise, wie über Fremdplatzierungen im «Bund» und in der Neuen Zürcher Zeitung geschrieben wurde. Dabei werden vier Phasen unterschieden: 1923–1928, 1937–1944, 1968–1972 und 1974–1981. Im Fokus stehen die Begriffe, mit denen über die Betroffenen und die Gründe von Fremdplatzierung in Heimen oder Pflegefamilien berichtet wurde. So zeigt sich zum Beispiel, wie die betroffenen Kinder und Jugendlichen charakterisiert wurden, was auch die zeitbezogenen Wertungen sichtbar macht.
Die wichtigsten Ergebnisse:
- Phasen 1 und 2 sind von einem nicht hinterfragten Wertekosmos geprägt. Nach 1968 wurden sowohl der Wertekosmos wie auch die Zuweisungspraxis hinterfragt.
- Die Einweisungspraxis in den Phasen 1 und 2 lässt sich mit dem Begriff der bürgerlichen Kälte charakterisieren.
- Fremdplatzierungen wurden mit dem Ziel verordnet, aus den Kindern und Jugendlichen brauchbare Mitglieder der Gesellschaft zu machen und sie religiös-sittlich zu erziehen.
- Die psychische Situation der Kinder wurde sehr lange Zeit nicht beachtet und war kein Thema in den Zeitungen.
Rubrik: Fremdplatzierung in den Medien
Untersuchungszeiträume: 1923–1928, 1937–1944, 1968–1972, 1974–1981
Medien: Neue Zürcher Zeitung, «Der Bund»
«Seit einigen Wochen sind nur zwei «Korberknaben» in einer Anstalt untergebracht und es geht ihnen vortrefflich. Sie haben sich rasch an das neue Leben gewöhnt, sind anstellig und willig bei der Arbeit, und man ist zufrieden mit ihrem Benehmen. Als wir sie neulich besuchten, zeigten sie uns stolz die saubern Kleider und neuen Schuhe, die wir ihnen zum Eintritt hatten zukommen lassen und der grössere meinte: ‹Wenn uns der Polizist von A. jetzt begegnete, würde er uns gewiss ruhig gehen lassen.›»
Mit diesen Worten schildert die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) am 8. September 1926 eine Erfolgsgeschichte. Das Ziel, ein ordentliches Benehmen der Kinder, ist erreicht, die Fremdplatzierung damit gerechtfertigt. Die Zeitung verliert kein Wort darüber, wie die Gefühlslage der von den Eltern getrennten Kinder sein mag.
Nachfolgend geht es um die Art und Weise, wie über Fremdplatzierungen geschrieben wurde. Genauer geht es um die zeitbezogenen Sprachspiele der beiden titelvermerkten Zeitungen. In Sprachspielen zeigt sich nach Wittgenstein nicht nur die Sprache, sondern auch das Weltbild der Sprechenden (Beerling, 1980). Lässt sich ein solches spezifisches Sprachspiel beobachten, wenn die Zeitungen über Kinder, die fremdplatziert oder in Heime eingewiesen werden, berichteten? Wenn es im Folgenden also um Beobachtungen an der verwendeten Sprache geht, liegt der Fokus aber nicht auf linguistisch-stilistischen Aspekten, vielmehr auf den Begrifflichkeiten, mit denen über die Phänomene und die Gründe von Heimeinweisung und Fremdplatzierung berichtet wurde. Die damit verbundenen Wertungen und Sollensansprüche geraten dabei mit in den Blick.
Geordnet sind die Beobachtungen entlang der zeitlichen Phasen, die im Projekt unterschieden wurden.
Phase 1 (1923–1928)
Die NZZ macht in den 1920er-Jahren die Heime recht oft zum Thema, wobei sie selten über das «Innenleben» und die pädagogischen Konzepte berichtet. Im Zentrum stehen vielmehr die Kosten von Heimen und Hilfsorganisationen, meist verbunden mit Spendenaufrufen.
Wer wird fremdplatziert, also in Heimen oder in Pflegefamilien grossgezogen?
Sieht man die Zeitungen durch, dann sind zwei Bezeichnungstypen vorherrschend. Entweder erfolgen Heimeinweisungen aus körperlich-heilpädagogischen oder aus sozialen und «milieubezogenen» Gründen.
Bei den körperlich-heilpädagogischen Begriffen ist oft ist von «Schwachsinnigen» (Bund, 03.05.1927; 13.05.1928), «unheilbar anormalen Kindern» (Bund, 13.05.1928), «geistig und körperlich abnormalen Kindern» (NZZ, 12.03.1926), «Geistesschwachen» bzw. «geistig schwachen» (Bund, 05.02.1927; NZZ, 08.04.1926), «krüppelhaften» (NZZ, 17.03.1926) oder «verschupften Kindern mit Defiziten» (NZZ, 01.10.1924) die Rede. Allgemein werden diese Phänomene unter dem Begriff «Anormalität» (NZZ, 13.06.1923) subsumiert. In heutigen Ohren wirken diese Ausdrücke kalt, abwertend und stehen in der begrifflichen Tradition der sogenannten bürgerlichen Kälte (Gruschka, Pollmanns & Leser, 2021). Dieses von den beiden deutschen Philosophen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno geprägte Konzept geht davon aus, dass es «die Strukturen und die materiellen Grundlagen der kapitalistischen Gesellschaft [sind], die den Menschen eine primäre Orientierung am eigenen Fortkommen und damit ein Handeln aufnötigen, das im Wesentlichen geprägt ist durch Kälte und Gleichgültigkeit gegenüber anderen» (Stückler, 2014, S. 282).
Für Kinder, die aus sozialen oder «milieubezogenen» Gründen fremd- oder heimplatziert werden, verwenden beide Zeitungen Bezeichnungen, mit denen entweder Mitleid oder dann das Gegenteil, gesellschaftliche Abwehr und Ächtung, konnotiert ist. So wird im «Bund» (15.04.1926) berichtet, dass die stadtbernische Gotthelfstiftung 372 «arme, verlassene, verwahrloste Geschöpfe» oder «Sorgenkinder» grosser Familien betreut. Ihnen gilt das Mitgefühl des Journalisten, der davon spricht, dass es Mütter gebe, «die dazu verurteilt sind, allein in der Welt zu stehen und allein für ihre Kinder zu sorgen. Fehlen die nötigen Mittel, dann müssen sie sich von den Kindern trennen und Geld verdienen» (Bund, 12.01.1928). Auch die Basler Gemeinnützige Gesellschaft hilft «armen, kranken und verwahrlosten» Kindern. Andernorts ist die Rede von «verlassenen» (NZZ, 31.01.1923; 28.02.1923b) oder von «versorgungs- und erziehungsbedürftigen» Kindern (NZZ, 20.07.1923). Arm, krank, verwahrlost, verlassen, erziehungsbedürftig: Wer hätte da nicht Mitleid? Neben dem Mitleid ist, ganz im Sinne der bürgerlichen Kälte, auch Abwehr zu konstatieren. Ein Journalist des «Bundes» hält fest, dass zu den als «abnormal» bezeichneten und gleichzeitig stigmatisierten Kindern auch die «schwererziehbaren» Kinder zählen, also Kinder, bei denen «das ethische Empfinden und Wollen gelitten hat» (Bund, 17.02.1927). Solche Kinder gelten als «sittlich verwahrlost» (NZZ, 28.02.1923a). Die familiären und sozialen Umstände, die nach Ansicht der Zeitungen zur Überforderung in der Erziehung führten, werden sehr direkt ausgeschildert: Es sind die als «Trinker- und Vagantenmilieus» bezeichneten Umstände (NZZ, 25.11.1923; 05.12.1923; 13.06.1926). Einem solchen Umfeld entwachsen «schwererziehbare» Kinder und Jugendliche (NZZ, 24.04.1924), die auch als «Verirrte» bezeichnet werden (NZZ, 07.03.1926). Einweisungen zu Pflegeeltern oder in Heime bringen in der Einschätzung der Zeitung Erfolg, wie wir anhand des eingangs aufgeführten Zitates gesehen haben.
Was soll die Fremdplatzierung bewirken?
Als Ziel der Erziehung im Heim oder bei Pflegeeltern werden die gesellschaftliche Nützlichkeit und die sittliche bzw. religiös-sittliche Verbesserung der Kinder und Jugendlichen angeführt. So steht zum Beispiel in einem Bericht über das Arbeitsheim Schloss Köniz für «schwachsinnige» Mädchen, dass das Ziel darin besteht, den Mädchen ein «geordnetes und arbeitsfreudiges Leben» zu ermöglichen. Die laut dem Berichterstatter «spärlich vorhandenen Fähigkeiten» sollten auf «gute Wege» geleitet und «durch Bescheidenheit und Angewöhnung treuer Pflichterfüllung» ersetzt werden (Bund, 03.05.1927). In der NZZ vom 19. Dezember 1923 wird in einem Artikel über den Jahresbericht des Zürcher Vereins für gute Versorgung armer Kostkinder berichtet, dass 41 Kindern «Liebe, Pflege und Erziehung» zukämen, «damit sie zu kräftigen, arbeitsfrohen und tugendhaften Menschen» heranwüchsen. «Brauchbarkeit» ist ein immer wieder genanntes Ziel der Heim- oder Pflegekindererziehung. Im Schweizerischen Pestalozziheim Neuhof etwa werden die «Zöglinge zu brauchbaren Menschen» herangezogen (NZZ, 09.05.1924) und auch die Kommission zur Versorgung hilfsbedürftiger Kinder hatte zum Ziel, aus «unseren jungen Leuten brauchbare Menschen zu machen» (NZZ, 16.04.1925). Als Oberbegriff für Kinder und Jugendliche, die in Heimen oder in Pflegefamilien aufgezogen werden, ist der Begriff «Zögling» damals üblich.
Über Personen und Einrichtungen, die sich für diese Anliegen einsetzen, wird unter Verwendung pathetischer Stilmittel berichtet. So schreibt der «Bund» über das Schloss Köniz, eine «Anstalt» für «geistig zurückgebliebene» Mädchen, dass dort ein «Geist der Wohltätigkeit und Liebe» herrsche (Bund, 03.05.1927). Und die von der schon erwähnten «Gotthelfstiftung» betreuten Kinder erfordern eine «Unmenge von Geduld und Liebe», um die aus «schwierigen Familienverhältnissen hervorgegangenen Pfleglinge zu brauchbaren Menschen heranzuziehen, wofür der Vorstand in selbstloser, aufopfernder Tätigkeit sorgt» (Bund, 15.04.1926). Über den Zürcher Verein für gute Versorgung armer Kostkinder sagt die NZZ, dass er «keine Mühe und kein Opfer» scheue, den Kindern zu geben, was ihnen, «den rein Schuldlosen», ein «hartes Schicksal […] an Licht und Wärme zu entziehen» drohe. «Auch diese Kinder sollen einer frohen Jugendzeit, eines Familienlebens teilhaftig werden, das von Liebe und von gegenseitiger Dienstfertigkeit durchwärmt ist» (NZZ, 19.12.1923).
Es muss aber durchaus bekannt gewesen sein, dass diese hehren Ziele in der Realität verfehlt wurden. So stellt in klarem Kontrast dazu ein Journalist bezüglich der Fremdversorgung fest: Die Kinder kämen in irgendeine Familie oder in ein Heim. Hauptsache, sie hätten ein Dach über dem Kopf, ein Bett, Kleider und keinen Hunger. Nach dem andern werde nicht gefragt. Ob Kinder verstanden würden, alles getan werde, «ihre guten Eigenschaften zu fördern, die schlechten zu unterdrücken», ob darauf geachtet werde, «aus ihnen mit viel Liebe und Geduld […] gute, möglichst wertvolle Menschen zu machen» – danach werde nicht gefragt. Das Versorgen der Kinder bleibe meist ein Geschäft für jene, die Kinder gegen Bezahlung aufnähmen. Gute Plätze, mit Liebe für Kinder, seien selten (Bund, 12.01.1928). Und auch in der NZZ ist 1927 zu lesen, dass es gar nicht so leicht sei, eine für die Kinder «rechte Pflegefamilie zu finden, bei der der Schutzbefohlene ein gutes, liebesvolles Heim findet und die ihn nicht in erster Linie um des kleinen Verdienstes willen aufnimmt» (NZZ 18.05.1927).
Aus dieser Feststellung lässt sich ableiten, dass es der Öffentlichkeit sehr wohl bewusst sein musste, dass die gängige Praxis nicht befriedigend war. Dies war spätestens der Fall, seitdem das Buch «Anstaltsleben» von C.A. Loosli in Form von Rezensionen Eingang in die Zeitungen fand. Loosli vergleiche, so die NZZ, die Anstaltserziehung mit Krieg und fordere Alternativen. «Anstalten» unterbänden nach Loosli die Vorstellungskraft und den selbstständigen Schaffens- und Denktrieb, und Religion sei in der «Anstalt» ein «Zuchtmittel unter anderen», Strafen «lediglich Zwangs- und Polizeimittel ohne erzieherischen Wert», häufig kämen «in den Anstalten scheussliche sadistische Strafen vor». So untergrabe die «Anstalt» die «Lebenstüchtigkeit und Lebenskraft ihrer Zöglinge» und mache sie «unfrei» (NZZ, 12.11.1924). Spätestens seit dieser Invektive kann davon ausgegangen werden, dass die regelmässige Leserschaft der NZZ darüber informiert war, dass vieles im Argen lag.
Phase 2 (1937–1944)
In den meisten Aspekten ist bezüglich der Konzeptbegriffe in Phase 2 gegenüber der Phase 1 Kontinuität zu beobachten. «Geistesschwach», «schwachbegabt», «abnormal» oder «anormal» sind die häufigsten Bezeichnungen für Kinder, die aus körperlich-heilpädagogischen Gründen fremdplatziert werden (Bund, 13.03.1937; 22.03.1937; 23.05.1937; 30.05.1937; 01.06.1941; 04.07.1944). «Verwahrlost», «entgleist», «disziplinlos», so werden – auch jetzt noch – die aus sozialen oder «milieubezogenen» Gründen Fremdplatzierten bezeichnet (Bund, 24.10.1943; 12.05.1937).
Ein übergeordneter Begriff, der sehr häufig vorkommt, ist «abnormal» oder «anormal». Die Organisation Pro Infirmis, heute gemäss Selbstdeklaration eine Fachorganisation für Menschen mit Behinderungen, die sich für Selbstbestimmung und Inklusion einsetzt (siehe www.proinfirmis.ch , besucht am 05.05.2023), wurde damals noch als «Schweizerische Vereinigung für Anormale» bezeichnet (Bund, 13.03.1937).
In Phase 2 wird aber ein wenig empathischer als in Phase 1 auf die Bedürfnisse der Kinder eingegangen. So berichtet der «Bund» am 30. Juni 1941 über Pflegeeltern, welche ein anvertrautes sechsjähriges Kind mit dem Lederriemen züchtigten und die vor Gericht gestellt wurden. Dass das Kind sich «störrisch» verhielt, wird vom Gericht zwar als Strafmilderung in Anschlag gebracht, die Pflegeeltern werden aber doch verurteilt. In positiv-empathischer Weise schreibt der «Bund» am 28. März 1937 über junge Frauen, die aus dem Heim Lerchenbühl bei Burgdorf entlassen wurden und künftig «in Bauernbetrieben ihr Brot» verdienten: «Möge, wohin sie immer verschlagen werden, eine gütige Hausmutter sie unter ihre Fittiche nehmen, dass nach der Wärme und Fürsorge im Heim das Leben sie nicht mit seiner ganzen Brutalität erfasst!»
Auch die Zielsetzungen der Heimerziehung bleiben in Phase 2 gegenüber der Phase 1 unverändert. Es wird davon ausgegangen, dass Arbeit in Haus und Werkstatt, Garten und Feld zu einem guten Start in ein von «Brauchbarkeit» geprägtes Leben führt.
Phase 3 (1968–1972)
Gegenüber den ersten beiden Zeitabschnitten kommen zwischen 1968 und 1972 (Phase 3) semantisch-konzeptionelle Verschiebungen zum Tragen, was wenig überraschend ist, vergegenwärtigt man sich, dass es sich um die Zeit nach den 1968er-Unruhen handelt und grundsätzliche gesellschaftliche Umwälzungen gefordert wurden. Aber es gibt auch noch Kontinuitäten.
Zu den Kontinuitäten gehört der Begriff des «Zöglings», der immer noch verwendet wird (Bund, 02.12.1971 ), genauso wie die Kennzeichnung als «Schwachsinnige» oder «Schwachbegabte» (Bund, 06.09.1970). Aber es gibt jetzt auch neue Begriffe wie «asoziale, schwer erziehbare Kinder» (Bund, 02.05.1969 ), «geschädigte und nicht-geschädigte Kinder» (Bund, 02.02.1972 ), «geistig und körperlich behinderte Kinder, die nicht schulbildungsfähig sind» (Bund, 30.04.1969). Oft ist jetzt statt von «Zöglingen» einfach von Kindern die Rede, z.B. Kindern aus «Broken Homes» (Bund, 08.08.1978 ), von «Fürsorgekindern aus ungünstigem Milieu» (Bund, 28.04.1969), von «Kindern mit geistigen und körperlichen Anlagemängeln» (Bund, 29.01.1971) oder von «Schützlingen» (NZZ, 05.08.1970). Das Wort Schützling ist bemerkenswert, weil nun der Schutz betont wird. Insgesamt lässt sich jedenfalls feststellen, dass die Nomenklatur differenzierter und mehr am sozialwissenschaftlichen und medizinischen Vokabular orientiert ist. Das in Phase 1 und 2 vorhandene Stigmatisierungsvokabular wird jetzt öfter vermieden.
In Phase 3 werden nun auch pädagogische Konzepte der Heime thematisiert und die Zeitungen blicken auf die Praxis, etwas, was zuvor kaum vorkam. So wird der konzeptionelle Wandel von der Strafe hin zur Erziehung thematisiert (Bund, 02.05.1969). Die Unterbringung in Heimen soll, wenn immer möglich, nur noch eine Notlösung für eine kurze Zeit sein (Bund, 27.04.197 5). Als gegen die Leiterin des «Heims für schwererziehbare Kinder im volksschulpflichten Alter in Fürstenaubruck» (GR) 1971 schwere Vorwürfe bezüglich der Anwendung von Körperstrafen im Raum stehen, wird durch die Behörden genauer hingeschaut (NZZ, 02.03.1971). In den Medien wird breit über die Zürcher «Heimkampagne», eine Aktionsgruppe, die Misshandlungen anprangert, berichtet (NZZ 20.08.1971; 26.08.1971), diese allerdings doch abwehrend als «Hetzkampagne» bezeichnet. Einige Jahre zuvor hatte Oskar Reck, damals Chefredaktor der Thurgauer Zeitung, den Anstaltsleitungen an einer Jahrestagung empfohlen, den Kontakt mit der Journaille zu suchen, um deren Vorurteile zu überwinden. Durch die Erwähnung der Heimvergangenheit in Kriminalchroniken würden von Journalisten immer wieder Klischees transportiert. Und er appellierte an die Publizisten, Kontakt mit Anstaltsleitern aufzunehmen, um in der Öffentlichkeit überholte Vorstellungen zu beseitigen (Vox populi 1968, S. 198–200).
Phase 4 (1974–1981)
Zwischen Phase 3 und Phase 4 (1974–1981) ist in Stil und Vokabular kein so grosser Sprung mehr zu beobachten wie zwischen Phase 2 und 3. Das Vokabular wird weiter ausdifferenziert, es ist die Rede von «normalbegabten» oder «verhaltensauffälligen» Mädchen und Knaben (Bund, 18.03.1981 ), «Kindern mit besonderen familiären Problemen», «Scheidungskindern» (Bund, 19.04.1980), «Scheidungswaisen», «Schutzbefohlenen» (Bund, 30.01.1974), «Kindern und Jugendlichen, die sich in einer aktuellen Krisenlage befinden» (Bund, 27.06.1981). Konzeptionell stehen die Zeichen auf Öffnung und auf gesellschaftliche Integration. Kinder, die nicht zu Hause aufwachsen, besuchen nun immer öfter die öffentliche Schule (Bund, 18.03.1981). Zwar kommt der landwirtschaftlichen Arbeit in den Heimen immer noch eine Bedeutung zu, aber sie ist nicht mehr als Lernfeld für Exaktheit und Disziplin gedacht, sondern dafür, dass als schwierig wahrgenommene «Stadtkinder» im Kontakt mit Tieren besser zu sich selbst finden (Bund, 29.08.1981). Trotz dieser generellen Öffnung bleibt die Situation für die Kinder und Jugendlichen nach Beendigung der Aufenthalte im Heim schwierig. So gesteht der Vorsteher des «Heimes Landorf» in Köniz ein, dass nach dem Heim eine Anschlusslösung gefunden werden müsste, dies aber oft nicht gelinge.
Fazit
Die sprachlich-konzeptionellen Auseinandersetzungen mit Artikeln der beiden Zeitungen lassen sich wie folgt bilanzieren:
In den Phasen 1 und 2 wird auf eine Art und Weise berichtet, welche sich dem Konzept der bürgerlichen Kälte zuordnen lässt. Die pädagogischen Konzepte werden verhältnismässig alltagsnahe und wenig emphatisch verwendet. Dazu gilt es aber zu bemerken, dass die neu entstehende wissenschaftliche Disziplin der Sozial- und Heilpädagogik in dieser Zeit ebenfalls noch Begriffe verwendete, welche alltagsnahe waren (vgl. Möckel 2007).
Die Journalistinnen und Journalisten nahmen in den Phasen 3 und 4 die nun deutlich differenziertere Sprache der Wissenschaft auf und verwendeten sie.
Quellen
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Ohne Autor:in: Jugendfürsorge im neuen aargauischen Schulgesetzentwurf, in: Neue Zürcher Zeitung, Mittagsausgabe Nr. 398, 12. März 1926, S. 2 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=NZZ19260312-02.2.33
Ohne Autor:in: Ein Besuch im Landerziehungsheim Albisbrunn, in: Neue Zürcher Zeitung, Abendausgabe Nr. 560, 8. April 1926, S. 1 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=NZZ19260408-03.2.24
Ohne Autor:in: Hilfe für die Anormalen, in: Der Bund, Nr. 56, 5. Februar 1927, S. 7 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=DBB19270205-01.2.47
Ohne Autor:in: Ein Arbeitsheim für schwachsinnige Mädchen, in: Der Bund, Nr. 188, 3. Mai 1927, S. 6 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=DBB19270503-02.2.37.2
Ohne Autor:in: Die Kommission zur Versorgung hilfsbedürftiger Kinder, in: Neue Zürcher Zeitung, Morgenausgabe Nr. 832, 18. Mai 1927, S. 2 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=NZZ19270518-01.2.31
Ohne Autor:in: Ein Pflegeheim für schwachsinnige Kinder, in: Der Bund, Nr. 221, 13. Mai 1928, S. 5 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=DBB19280513-01.2.31.6
Ohne Autor:in: Bei schwachbegabten Kindern – im Lerchenbühl Burgdorf, in: Der Bund, Nr. 143, 28. März 1937, S. 9 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=DBB19370328-01.2.30.39
Ohne Autor:in (Eine Hausmutter schreibt uns): Knabenerziehung. Von einer Anstalt aus gesehen, in: Der Bund, Nr. 216, 12. Mai 1937, S. 7 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=DBB19370512-02.2.39.12
Ohne Autor:in: «Es lohnt sich. 20 Jahre Arbeit an Schwachsinnigen im Schloss Köniz», in: Der Bund, Nr. 251, 1. Juni 1941, S. 5 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=DBB19410601-01.2.29.4
Ohne Autor:in: Der Geistesschwache im Erwerbsleben, in: Der Bund, Nr. 307, 4. Juli 1944, S. 3 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=DBB19440704-01.2.19
Ohne Autor:in: Besserstellung der Invaliden – KIO-Vorständekonferenz im Kinderheim «Mätteli» Münchenbuchsee, in: Der Bund, Nr. 99, 30. April 1969, S. 33 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=DBB19690430-01.2.24.19.1
p.h.: Jugendstrafvollzug: Erziehen statt strafen, in: Der Bund, Nr. 101, 2. Mai 1969, S. 7 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=DBB19690502-01.2.16.5
Pro Juventute: Vagantenkinder, in: Neue Zürcher Zeitung, Mittagsausgabe Nr. 1440, 8. September 1926, S. 1 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=NZZ19260908-02.2.18
-ry: Schweizerisches Pestalozziheim Neuhof, in: Neue Zürcher Zeitung, Zweites Mittagsblatt Nr. 686, 9. Mai 1924, S. 1 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=NZZ19240509-02.2.20
sda: Zug und die Zürcher «Heimkampagne», in: Neue Zürcher Zeitung, Morgenausgabe Nr. 385, 20. August 1971, S. 14 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=NZZ19710820-01.2.24.9
sda: Hetzkampagne gegen Arbeitserziehungsanstalten, in: Neue Zürcher Zeitung, Morgenausgabe Nr. 395, 26. August 1971, S. 16 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=NZZ19710826-01.2.23.14
Siegfried, A.: Vagantenkinder, in: Neue Zürcher Zeitung, Erste Sonntagsausgabe Nr. 951, 13. Juni 1926, S. 2 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=NZZ19260613-01.2.45
ukb: Für «familiären Betrieb» im Jugendheim, in: Der Bund, Nr. 64, 18. März 1981, S. 23 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=DBB19810318-01.2.21.18.5
Vox populi: Bericht über die VSA-Tagung 1968 in Brunnen, in: Fachblatt für schweizerisches Heim- und Anstaltswesen 39 (1968), Nr. 6, S. 197–200, 203.
W: Anstalts- und Familienerziehung, in: Neue Zürcher Zeitung, Mittagsausgabe Nr. 1693, 12. November 1924, S. 1 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=NZZ19241112-02.2.19
Literatur
Beerling, Reiner Franciscus: Sprachspiele und Weltbilder. Reflexionen zu Wittgenstein. Freiburg/München: Karl Alber 1980.
Gruschka, Andreas, Pollmanns, Marion & Leser, Christoph (Hg.): Bürgerliche Kälte und Pädagogik. Zur Ontogenese des moralischen Urteils. Opladen/Berlin/Toronto: Barbara Budrich 2021.
Möckel, Andreas: Geschichte der Heilpädagogik oder Macht und Ohnmacht der Erziehung. Stuttgart: Klett-Cotta 2007.
Stückler, Andreas: Gesellschaftskritik und bürgerliche Kälte, in: Soziologie 43 (2014), Nr. 3, S. 278–299.
Autorenporträt
Michael Fuchs, pensionierter Erziehungswissenschaftler mit Interessenschwerpunkt Historische Pädagogik und Didaktik, forschte als Bürgerforschender im Projekt «Was war bekannt?».
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