Aarburg – von der Zwangserziehungsanstalt zum Jugendheim Aarburg
Fazitbox
In einem Bericht in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) 1928 wurde erwähnt, dass die Zwangserziehungsanstalt Aarburg 1927 überfüllt war. Um diesen Umstand zu erklären, müssen die Gründe der Einweisungen bekannt sein. Bei der vertieften Recherche fanden sich nebst den Gründen auch bewegende Informationen zu den Zuständen und den harten Bestrafungen. Dabei fällt auf, dass ehemalige «Zöglinge» in den Medien kaum zu Wort kamen.
Ergänzend zu den Beiträgen aus der Zeitungsrecherche in «Der Bund» und der NZZ zur Zwangserziehungsanstalt Aarburg wurden weitere Quellen wie Forschungsberichte, historische Statistiken, Jahresberichte, ein Jugendroman und Onlinepublikationen beigezogen (nicht abschliessende Recherche im Zeitraum 1893–2015).
Das Verhältnis der Einweisungen (administrativ oder gerichtlich) hat sich im Laufe der Jahre jeweils stark verändert. Das revidierte aargauische Jugendstrafrecht, gesellschaftspolitische Umbrüche sowie Entwicklungen im Erziehungssystem sind Gründe für diese teilweise grossen Schwankungen. Öffentlich gemachter Kritik betreffend harte körperliche Bestrafung in den ersten Betriebsjahren wurde zwar nachgegangen, Verbesserungen zeigten sich jedoch auch zwanzig Jahre später nicht wirklich. Durch eine Untersuchungskommission abgeklärte unangebrachte Erziehungsmethoden wurden in den 1930er-Jahren als Verfehlungen nicht geeigneter Stelleninhaber bezeichnet. Ausser über die Strafen wurde in den Medien oft von den schwierigen baulichen Verhältnissen in der Aarburg berichtet, der Heimalltag wurde meist positiv beschrieben. Diese Beschreibungen bilden einen klaren Gegensatz zur zeitgenössischen, oft stigmatisierenden Sprache, die in den ausgewählten Zitaten gut sichtbar wird. Stimmen von ehemaligen «Zöglingen» wurden kaum publiziert.
Rubrik: Heimunterbringung in den Medien
Untersuchungszeiträume: 1923–1928, 1937–1944, 1968–1972, 1974–1981
Medien: Neue Zürcher Zeitung, «Der Bund»
Die trutzige Festung über Aarburg war einst Sitz von Habsburgern und bernischen Vögten, Kerker für Kriminelle, Zeughaus und Materiallager, Unterkunft für «Landstreicher» und arme Leute. 1863 wurde hier zum letzten Mal eine Hinrichtung vollzogen.
Die Namensgebung spiegelt die baulichen Veränderungen im Zeitverlauf sowie die Entwicklung der pädagogischen Konzepte der Aarburg wider.
1893: Die Kantonale Zwangserziehungsanstalt Aarburg für jugendliche Verbrecher (gerichtlich verurteilte Personen) und sogenannte «Taugenichtse» (administrativ Eingewiesene) wurde eröffnet. Wie zu dieser Zeit üblich, galt Zucht und Ordnung, Arbeit und Gottesfurcht als erzieherische Leitlinie. Die Unterkunft mit den unbeheizten Einzelzellen mit Gittern vor den Fenstern, massiven, dunklen Eichentüren mit Guckloch und düsteren Gängen glich einem Gefängnis.
1943: In vier Etappen wurden Unterkünfte, Werkstätten, Küche, Lingerie und Verwaltungsgebäude saniert. Anstelle der Strafe rückte der Erziehungsgedanke in den Vordergrund, die Anstalt wurde in Kantonale Erziehungsanstalt Aarburg umbenannt.
1972: Moderne und differenzierte Erziehungskonzepte und Umstellungen von Gross- in Wohngruppen haben Einfluss auf den Namen. Dieser wurde in Kantonales Erziehungsheim Aarburg geändert.
Seit 1988: Bauliche Anpassungen wurden vorgenommen und ein neues Werkstattgebäude erstellt. Zudem wurde die «Anstalt für Nacherziehung» geschaffen. Die Institution nennt sich Kantonales Jugendheim Aarburg.
Als Teilnehmende des Citizen-Science-Projekts «Was war bekannt? Das Thema «Fremdplatzierung» in Schweizer Tageszeitungen» bin ich bei der Onlinerecherche in der Zeitung «Der Bund» (Phasen 1–4: 1923–1928, 1937–1944, 1968–1972, 1974–1981) auf wenige Artikel zur Erziehungsanstalt Aarburg gestossen. In der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) wurde in dieser Zeitspanne weit mehr über die Aarburg berichtet. Die Mitteilungen handelten mehrheitlich von Ausbrüchen, Rückfällen und Gerichtsfällen. In den Jahresberichten wurden Zahlen und Gründe zu Einweisungen, Finanzielles, Ausbildungen und Abschlüsse sowie bauliche Verhältnisse thematisiert.
Bei meiner Auseinandersetzung mit den Medienberichten standen folgende Fragen im Mittelpunkt:
- Was waren die Gründe für eine Einweisung in die Zwangserziehungsanstalt Aarburg?
- Welche Strafen wurden in der Zwangserziehungsanstalt Aarburg angewendet?
- Kommen Ehemalige der Erziehungsanstalt Aarburg in den Medienberichten zu Wort?
Sibylle Laube hat sich ausserdem mit folgender Frage befasst: Was war über die (Berufs-)Ausbildungssituation von internierten Personen in den Erziehungsanstalten im 20. Jahrhundert bekannt?
Aus der Recherche im Jahrbuch von 1912 (Knabenhans, 1913, S. 204), in dem Jugendroman «Zelle 7 wieder frei …» von Jenö Marton (1936), der Dissertation von Rudolf Hans Gut (Die Erziehungsanstalt Aarburg mit Berücksichtigung des Aargauischen Jugendstrafrechtes 1893–1965; 1969), dem Forschungsprojekt (Die Krise der Erziehungsanstalt Aarburg, 1935/1936), dem Aargauer Neujahrsblatt 1980 (Von der Zwangserziehungsanstalt zum Erziehungsheim), dem Buch «Krisen, Kritik und Sexualnot» von Kevin Heiniger (2016), dem Aarburger Neujahrsblatt 2018 (Von der Zwangserziehungsanstalt zum Jugendheim: 125 Jahre Jugendheim Aarburg) [OPF2] und in weiteren Quellen ergaben sich interessante, aber auch sehr erschütternde Informationen wie z.B. die Gründe der Einweisungen oder die harten, körperlichen und psychischen Bestrafungen sowie wenige Berichte von ehemaligen «Zöglingen».
Gründe der Einweisung in die Zwangserziehungsanstalt Aarburg
Der NZZ-Artikel «Zwangserziehungsanstalt Aarburg» im Zeitungsressort «Für die Jugend» berichtete 1928 über den «vollbesetzten, ausgenutzten und damit rationellen Betrieb» der Anstalt, um mit folgender Aussage fortzufahren:
«Aber dass eine Zwangserziehungsanstalt überfüllt ist, spricht unserer Zeit nicht gerade ein günstiges Urteil. Die Anstalt auf der Aarburger Festung hat im vergangenen Jahre 76 Zöglinge beherbergt, eine außerordentlich hohe Zahl» (NZZ, 08.08.1928).
Die Zwangserziehungsanstalt Aarburg wurde 1893 als staatliche Einrichtung eröffnet, nachdem der Grosse Rat des Kantons Aargau 1891 beschloss, auf der Festung Aarburg eine Anstalt für «jugendliche Verbrecher und Taugenichtse» einzurichten (Knabenhans, 1913, S. 204; Von der Zwangserziehungsanstalt zum Jugendheim, 2018).
Aufgenommen wurden:
a) Gerichtlich eingewiesene männliche Jugendliche unter 18 Jahren, denen zur Strafe eine Erziehungsmassnahme auferlegt wurde, mit dem Ziel eines «besseren Lebenswandels»,
b) jugendliche «Taugenichtse» im Alter von 14 bis 18 Jahren (ausnahmsweise auch jüngere und ältere), die nicht gerichtlich eingewiesen, sondern administrativ versorgt wurden. Für sie galt die Voraussetzung, dass sie «körperlich und geistig gesund und bildungsfähig» waren. Ihre Unterbringung wurde von einweisenden Behörden als dringend notwendig erachtet. Ausgenommen waren Personen, die als «Idioten» oder «Krüppel» bezeichnet wurden. Die Einweisung erfolgte auf schriftliches Gesuch seitens der Eltern oder des Erziehungsberechtigten («Inhaber der väterlichen Gewalt») und der Vormundschaftsbehörden der zahlungspflichtigen Heimatgemeinde.
Infobox: Administrative Versorgung / administrative Einweisung
Die administrative Einweisung war eine Praxis, bei der Menschen aufgrund von vermeintlichen Charaktereigenschaften oder Verhaltensweisen durch kommunale oder kantonale Verwaltungsbehörden in Einrichtungen interniert wurden; oft auf unbestimmte Zeit (vgl. Germann, 2024; Seglias et al., 2019). Seit dem 19. Jahrhundert wurden diese Massnahmen von Fürsorge- und Vormundschaftsbehörden als Disziplinierungs- und Besserungsmittel angewandt. Jugendliche sowie Erwachsene, die als «arbeitsscheu», «liederlich», «alkoholkrank» oder als «Vaganten» galten, sollten durch Arbeit zur Arbeit «nacherzogen» werden. In der Schweiz existierten über 600 Einrichtungen, Heime und «Anstalten», in die zwischen 1930 und 1980 mindestens 60 000 Personen administrativ eingewiesen wurden.
Fehlende rechtsstaatliche Mittel, sich dagegen zu wehren, und willkürliche Einweisungen führten schon früh zu Kritik. 1981 wurden, im Zuge der Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention, alle kantonalen «Versorgungsgesetze» aufgehoben und durch die fürsorgerische Freiheitsentziehung (FFE) ersetzt, heute fürsorgerische Unterbringung (FU).
Das Verhältnis von gerichtlich und administrativ eingewiesenen Jugendlichen zeigte von der Eröffnung im Jahr 1893 bis 1981 grosse jährliche Schwankungen. Aus Jahresberichten von 1923 bis 1927 ist zu entnehmen, dass im Durchschnitt zwischen 70 und 76 Jugendliche in der Einrichtung untergebracht waren, wovon jeweils knapp ⅓ gerichtlich Eingewiesene und über ⅔ administrativ Eingewiesene (NZZ, 1924–1928). Detaillierte Zahlen der Folgejahre konnten nicht gefunden werden. Gemäss dem Beitrag zu «125 Jahre Jugendheim Aarburg» waren bis 1970 die administrativ eingewiesenen Jugendlichen in der Mehrheit (Aarburger Neujahrsblatt 2018, S. 11). Ausnahmen bildeten die Jahre während des Ersten und des Zweiten Weltkriegs, in denen mehr strafrechtlich Eingewiesene auf der Burg waren.
Eine Wende zeigten die gesellschaftspolitischen Umbrüche der 1968er-Bewegung und die sogenannte Heimkampagne der 1970er-Jahre. Folgende Aussage zur Broschüre «Die Erziehungsanstalt Aarburg, mit Berücksichtigung des aargauischen Jugendstrafrechtes von 1893 bis 1965» (Der Bund, 23.03.1970) von Dr. iur. Rudolf H. Gut, soll zeigen, dass die Aarburg zunehmend auf Zwangsarbeit und strenge Bewachung verzichtet und sich mehr den an individuellen Bedürfnissen orientierten Methoden – die stark ausgebaute Arbeitstherapie als hauptsächliches Erziehungsmittel in Ergänzung von psychologischen Therapien sowie differenzierte und spezifische Erziehungs- und Behandlungsmöglichkeiten – zuwendet:
«Die Nacherziehung eines entgleisten Jugendlichen erfordert von einer Anstalt grosse psychologische Fähigkeiten, und eine angestrebte Wiedereingliederung asozialer und entwicklungsgehemmter Jugendlicher in die menschliche Gesellschaft bedarf grosser Aufmerksamkeit und vermehrter Opfer.»
Infobox: «Heimkampagne» und 68er-Bewegung
Die 68er-Bewegung ist ein Sammelbegriff für verschiedene Bewegungen, die oftmals von Studierenden ausgingen (vgl. Tackenberg, 2011). Der sogenannte Globuskrawall vom 29. Juni 1968 in Zürich war die Initialzündung in der Schweiz. Trotz zahlreichen Unterschieden ihrer Anliegen und Sichtweisen waren ihnen allen die Kritik an herrschenden Wertvorstellungen und die Forderung nach mehr individueller Lebensgestaltung sowie für eine breitere gesellschaftliche Mitbestimmung gemeinsam. Diese Forderungen flossen auf unterschiedliche Weise auch in die Praxis der Fremdplatzierung von Kindern und Jugendlichen ein. Medial besonders sichtbar wurde die zunehmende öffentliche Kritik an den hierarchisch und autoritär geführten «Erziehungsheimen» bei der sogenannten Heimkampagne aus Deutschland, die Anfang der 1970er-Jahre auch in der Schweiz Wirkung zeigte. Sie führte zu Reformen im Heimwesen, beispielsweise indem individuelle Bedürfnisse der Jugendlichen stärker gewichtet wurden (vgl. Leuenberger & Seglias, 2015, S. 346–349).
Von 1972 bis 1980 waren dreissig administrativ Versorgte im Erziehungsheim Aarburg, was einem Anteil von 13,3% aller Einweisungen entspricht (Heiniger, 2016, S. 18). Bis heute sind im Strafvollzug und auf zivilrechtlichem Weg Administrativmassnahmen möglich. Aktuelle Zahlen der Jahresberichte des Jugendheims Aarburg zeigen, dass die Tendenz, mehr strafrechtlich eingewiesene Jugendliche, bis heute anhält (www.ag.ch).
Die Zahl der aufgenommenen Jugendlichen in den anfänglich 56 vergitterten Zellen (1893) erreichte in den Jahren 1923–1927 einen Höchststand von 70 bis 80 «Zöglingen». Mit der Veränderung im Erziehungssystem, der Gliederung von Gross- in Wohngruppen und weiteren Massnahmen reduzierte sich die Anzahl der Plätze laufend auf heute 46 (www.ag.ch). Unter geschlossenen Jugendeinrichtungen galt Aarburg als besonders streng. In den Heimen wurde als Disziplinarmassnahme teilweise mit dem Versetzen in eine andere Einrichtung gedroht, dabei wurde Aarburg als letzte Station genannt: «Im Waisenhaus Baselstrasse wurde mit Rathausen gedroht; es wurden sogar jährlich Ausflüge unternommen, um den Kindern Rathausen vor Augen zu führen. In Rathausen wurde mit Knutwil gedroht. Wer in Knutwil nicht gehorcht hat, kam nach Aarburg» (Hinter Mauern, 2013, S. 139). Mit dieser Drohkulisse wollte man die Jugendlichen gefügig machen.
Gerichtlich Eingewiesene
Gerichtlich eingewiesene Jugendliche kamen früh mit dem Strafgesetz in Konflikt und sollten ihre Strafe nicht mit erwachsenen Straftätern in einem Gefängnis, in einer Strafanstalt, sondern in einer Einrichtung wie der Zwangserziehungsanstalt Aarburg absitzen. Die Angaben der Gründe variierten in den Zeitdokumenten, es wurden «Diebereien», «Einbrüche» und «Sittlichkeitsverbrechen», «Liederlichkeit», «Betrügereien», «Versumpfung im Grossstadtelend», «allgemeine Verkommenheit» genannt (NZZ, 23.10.1925; 07.07.1926; 31.08.1927).
Administrativ Eingewiesene
Auch bei den Angaben der administrativ Eingewiesenen wurden, je nach Zeitdokument, unterschiedliche Gründe für eine Versorgung in der Aarburg beschrieben. So wurden «schlechte Lektüre», «Vergnügungssucht», «erbliche Belastung und geistige Beschränktheit», das «schlecht[e] Beispiel der Eltern oder Kameraden», der Alkoholgenuss im Elternhaus, «schlechter Umgang und andere Leidenschaften», «Widersetzlichkeit gegen die elterliche Gewalt», «Vagantität und Verwahrlosung » angegeben (NZZ, 07.07.1926; 31.08.1927). Auch Halb- oder Vollwaisen oder Scheidungskinder wurden in der Aarburg «versorgt» (NZZ, 23.10.1925).
Eltern oder Vormundschaftsbehörden, die Jugendliche einwiesen, legten meistens Wert darauf, dass diese zwei bis drei Jahre auf der Aarburg blieben und in dieser Zeit ein Handwerk erlernten. Neben der Landwirtschaft waren eine Korbflechterei, eine Schneiderei, eine Schuhmacher- und eine Schreinerwerkstätte sowie eine Gärtnerei der Einrichtung angeschlossen (NZZ, 08.08.1928).
Weitere Gründe finden sich in anderen Veröffentlichungen und Studien. Eindrücklich beschrieb Jenö Marton in seinem Jugendroman «Zelle 7 wieder frei …!» den Grund für die Einweisung eines Jugendlichen in die «Erziehungsanstalt»:
«Hohe Pläne. Schlechte Zeugnisse. Die leichte Welt des Theaters lockte. Der übliche Fimmel. Das liegt nicht im Interesse der Familie. Sein Vater verlangt, dass er mit eiserner Strenge zum Gehorsam und zur Disziplin erzogen wird und einen bürgerlichen Beruf erlerne» (Marton, 1936, S. 14/15).
Von der Einweisung in die Anstalt Aarburg erhoffte sich ein Vater in den 1930er-Jahren, dass sein Sohn durch den «Anstaltsdrill» von der Homosexualität geheilt werde (Heiniger, 2016, S. 331).
In einem redaktionellen Beitrag «Unser TV-Hinweis» zum Dokumentarbericht «Alltag im Erziehungsheim – Erziehungsheim, Hilfe oder Strafe?» von 1973 wird ein Amtsvormund mit den Worten zitiert, dass «ratlos[e] Eltern» bei ihrer «aussichtslosen Erziehung ihrer Sprösslinge» mit dem Heim drohten (Bieler Tagblatt, 25.06.1973).
Strafen in der Zwangserziehungsanstalt Aarburg
Der Heimalltag in der Aarburg war streng geregelt. Einige Regeln waren in der Hausordnung festgehalten, andere erfolgten nach Gutdünken der Anstaltsleitung und der Angestellten. Körperliche Züchtigung und Einsperren wurden lange als legitim angesehen. Zu den Disziplinarmassnahmen zählten körperliche Bestrafung und Züchtigung wie Prügel, Stockschläge, Schläge mit Gummischlauch oder Meerrohrstock, Fusstritte, Ohrfeigen, Faustschläge oder Essensentzug, Rede- und Pfeifverbot, Zellenverbot am Sonntag bis zur Unterbringung im dunklen, kalten «Cachot» (Heiniger, 2016, S. 113–122).
In der ersten Betriebsperiode der Zwangserziehungsanstalt Aarburg (1893–1895) kämpfte der damalige Direktor, Joseph Baur, gegen die willkürliche körperliche Gewalt des Oberaufsehers und eines Aufsehers gegenüber den «Zöglingen» (Heiniger, 2016, S. 94). Baur war zwar kein Gegner körperlicher Gewalt, wollte jedoch nicht, dass diese unbegründet angewendet wurde. Er verlangte, dass vor der Ausübung der Strafe eine Untersuchung und eine Einvernahme der Beklagten erfolgte. Seine Forderung führte zu internen Konflikten.
Auch zwanzig Jahre später (1914) wandte sich der damalige Anstaltsdirektor, Adolf Scheurmann, an seine Vorgesetzte, die aargauische Justizdirektion, und meldete, dass einzelne Aufseher Verfehlungen von «Zöglingen» mit einer «Tracht Prügel» bestraften (Heiniger, 2016, S. 110).
Über die Strafen in der Zwangserziehungsanstalt wird in den Medien vor allem im Zusammenhang mit den schwierigen baulichen Verhältnissen berichtet. Im Grossen Rat des Kantons Aargau wird der Untersuchungsbericht über die baulichen und pädagogischen Verhältnisse in der kantonalen Zwangserziehungsanstalt Aarburg 1937 thematisiert (NZZ, 03.12.1937). Die Erziehungsmethoden waren im Vorfeld in einem Artikel von Willi Schohaus, Seminardirektor in Kreuzlingen, mit dem Titel «Kampf um Aarburg» in der Monatszeitschrift «Schweizer Spiegel» (Mai 1936) kritisiert worden (Heiniger, 2016, S. 201). Die einberufene Untersuchungskommission stellte fest, dass die kritisierten Erziehungsmethoden, die dem 1932 gewählten Direktor vorgeworfen wurden, die Folgen seiner Suche «nach dem richtigen Weg gewesen seien» (NZZ, 03.12.1937). Eine Minderheit der Kommission war der Meinung, dass der Direktor, ein diplomierter Landwirt, nicht die nötige pädagogische Vorbildung besitze und sich nach einer anderen Stelle umsehen sollte. Der Anstaltslehrer, der Schohaus das Material zu seiner Kritik geliefert hatte, wurde vom Regierungsrat entlassen (NZZ, 03.12.1937). Die Untersuchungskommission wies auf die Lücken hin, die in baulicher, organisatorischer und erzieherischer Hinsicht während der eingehenden Untersuchung eruiert worden waren. Die Kommission fand jedoch, dass viele Kritiken, die Schohaus geäussert hatte, masslos übertrieben seien und auf falschen Angaben beruhten (NZZ, 17.02.1938).
Unter dem Titel «Bemerkenswerte Neuerscheinungen» wird 1944 im «Bund» der Roman «Colombo: die Burg der Tränen» vorgestellt. Folgende Passage zeigt ein düsteres Bild der Aarburg:
«Was Peter in der «Festung» erlebt, trägt trotz der Verbitterung den Stempel der Wahrheit – eine Behandlung, die mit halben Kindern umgeht wie mit hartgesottenen Verbrechern (und es dann folgerichtig auch fertig bringt, solche zu züchten), die unglaubliche Roheit [sic] der zu einer erzieherischen Funktion total ungeeigneten Wärter, die brutalen körperlichen Strafen, das oft ungeniessbare Essen …» (Der Bund, 21.12.1944).
Die Publikation des Buches, das als Feuilleton in der «Lenzburger Zeitung» erscheinen sollte, wurde durch den aargauischen Staatsanwalt verboten (Vorwärts, 03.05.1945).
Stimmen von Ehemaligen in den Medien
In den Medienberichten im Untersuchungszeitraum von 1923 bis 1981 kommen «Zöglinge», die in die Zwangserziehungsanstalt eingewiesen wurden, kaum zu Wort. Wurde bewusst darauf verzichtet, weil man negative Schlagzeilen befürchtete, oder wollten Jugendliche nicht über ihre Unterbringung und ihre Erlebnisse auf der Burg berichten?
Der Bericht mit dem Titel «Steuerlos» über die Anklage des Bezirksgerichtes Zürich von vier Jugendlichen beschreibt eindrücklich ihren «Werdegang»:
«Der Aelteste, der Führer der Bande, zählt 22 Jahre, der Jüngste 20. Und doch alle schon gezeichnet! Gezeichnet – ja, wodurch? Nun, sicher durch ihr persönliches Versagen, durch ihre Schwäche durch den asozialen Charakterzug, der sich bei jedwedem abzeichnet. Gezeichnet aber auch durch ihre Jugendzeit.»
Einer der Verurteilten, der zuvor in sechs Erziehungsheimen und Anstalten, darunter Tessenberg, dann Aarburg, Witzwil, untergebracht war – Entweichungen wechselten mit neuen Einweisungen ab –, kommentiert seine kriminelle Vergangenheit wie folgt:
«Dass ich in schlechter Gesellschaft war, möchte ich nicht behaupten. Es kommt darauf an, ob man für das Schlechte anfällig ist» (Die Tat, 29.12.1965).
In aktuelleren Zeitdokumenten (2012–2015) erzählen Jugendliche ihre Geschichten. Es sind teilweise sehr selbstkritische Aussagen.
Im Bericht mit dem Titel «Fast das ganze Leben nur «Mist» gebaut …» berichtet ein junger Mann von seiner Heim-, Pflegefamilien- und Gefängnisvergangenheit, der Wende im Jugendheim Aarburg und seinen Berufs- und Lebenszielen (Solothurner Zeitung, 24.03.2013).
«Unschuldig eingesperrt», so lautet der Titel des Beitrags über «Erziehungsmassnahmen hinter Gittern» der Festung Aarburg:
«Bei mir gab es ja nichts zu strafen, aber vollzogen wurde trotzdem, fünf Jahre lang. Ich gehöre nämlich zu der Kategorie der «administrativ zur Nacherziehung Eingelieferten»» (TagesWoche, 24.04.2014).
G. Häfele beschreibt im Blog «Der Junge, das Amt und das Leben – kein Märchen» rückblickend detailliert die tragische Kindes- und Jugendzeit eines Jungen, die Gründe der Einweisung und den Alltag im Jugendheim. Ein sehr eindrücklicher, berührender Bericht (Häfele, 2014).
Urs erzählt als Ex-Drogensüchtiger in «20 Jahre Letten» von seiner Jugend. Als Vierjähriger verunglückten seine Eltern. Er wurde zwischen Heimen hin- und hergeschoben, «schlimme Läden waren das», er wehrte sich, dadurch wurde alles noch viel schlimmer. Als er aus der Erziehungsanstalt Aarburg «abhaute», wurde er nicht nur dafür bestraft, sondern auch fürs Stehlen, das gar nicht stattgefunden hatte:
«Die Strafen in Aarburg, wer das erlebt hat, der hat genug Busse für mehrere Leben getan», so sein Kommentar. «Wenn man den Schritt in die Illegalität einmal getan hat, ist es schwierig, da wieder rauszukommen», sagt er heute.
Mit seiner Vergangenheit hat er sich versöhnt, es war halt sein Leben, und beim Entzug hat er «aufgeräumt» (Limmattaler Zeitung, 14.02.2015).
Quellen
ack: Die Erziehungsanstalt Aarburg, in: Der Bund, Nr. 68, 23. März 1970, S. 4 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=DBB19700323-01.2.17.6
bg: Für die Jugend. Erziehungsanstalt Aarburg, in: Neue Zürcher Zeitung, Mittagsausgabe Nr. 1458, 31. August 1927, S. 5 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=NZZ19270831-02.2.27
bh: Für die Jugend. Erziehungsanstalt Aarburg, in: Neue Zürcher Zeitung, Mittagsausgabe Nr. 1437, 8. August 1928, S. 6 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=NZZ19280808-02.2.23
E.K.: Bemerkenswerte Neuerscheinungen, Colombo: die Burg der Tränen. Interna Verlag, Zürich, in: Der Bund, Nr. 599, 21. Dezember 1944, S. 8 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=DBB19441221-01.2.31.17.1
Freitag, Annette: Unser TV-Hinweis: Alltag im Erziehungsheim, in: Bieler Tagblatt, 25. Juni 1973, S. 28.
Gehrig, F.: Von der Zwangserziehungsanstalt zum Erziehungsheim, in: Aarburger Neujahrsblatt 1980 https://www.e-periodica.ch/digbib/view?pid=aan-002%3A1980%3A0%3A%3A43&referrer=search#43
Germann, Urs: Administrative Versorgung, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Version vom 22. Februar 2024 https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/060532/2024-02-22
Gut, Rudolf Hans: Die Erziehungsanstalt Aarburg mit Berücksichtigung des Aargauischen Jugendstrafrechtes 1893–1965. Aarau: Buchdruckerei Keller AG 1969.
Heiniger, Kevin: Krisen, Kritik und Sexualnot. Die «Nacherziehung» männlicher Jugendlicher in der Anstalt Aarburg (1893–1981). Zürich: Chronos 2016.
Hug, Fabian: Die Krise der Erziehungsanstalt Aarburg 1935/1936 – ein Medienskandal im Kontext von Bildung, Fürsorge, Zwang, Forschungsprojekt, Universität Zürich 2022.
Ines: Steuerlos!, in: Die Tat, 29. Dezember 1965, S. 7.
ki: Für die Jugend. Erziehungsanstalt Aarburg, in: Neue Zürcher Zeitung, Zweites Mittagsblatt Nr. 1356, 12. September 1924, S. 6 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=NZZ19240912-02.2.27
ki: Aus Jahresberichten. Zwangserziehungsanstalt Aarburg, in: Neue Zürcher Zeitung, Mittagsausgabe Nr. 1662, 23. Oktober 1925, S. 10 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=NZZ19251023-02.2.40
ki: Für die Jugend. Zwangserziehungsanstalt Aarburg, in: Neue Zürcher Zeitung, Mittagsausgabe Nr. 1100, 7. Juli 1926, S. 6 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=NZZ19260707-02.2.26
Knabenhans, C.: Die Zwangserziehungsanstalten, in: Jahrbuch der Schweizerischen Gesellschaft für Schulgesundheitspflege 1912. Zürich: Zürcher & Furrer 1913, S. 204–211 https://www.e-periodica.ch/digbib/view?pid=jgs-001:1912:13::11#233
Leuenberger, Marco & Seglias, Loretta: Geprägt fürs Leben. Lebenswelten fremdplatzierter Kinder in der Schweiz im 20. Jahrhundert. Zürich: Chronos 2015.
Marton, Jenö: Zelle 7 wieder frei …! Aarau: H.R. Sauerländer 1936.
Neuenschwander, Hans-Peter: Von der Zwangserziehungsanstalt zum Jugendheim: 125 Jahre Jugendheim Aarburg, in: Aarburger
Neujahrsblatt 2018,
https://www.e-periodica.ch/digbib/view?pid=aan-002:2018:0::81#10
Ohne Autor:in: Kantone, Aargau. Grosser Rat, in: Neue Zürcher Zeitung, Abendausgabe Nr. 2187, 3. Dezember 1937, S. 5 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=NZZ19371203-03.2.22
Ohne Autor:in: «Kampf um Aarburg», in: Neue Zürcher Zeitung, Abendausgabe Nr. 294, 17. Februar 1938, S. 5 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=NZZ19380217-03.2.26
Ries, Markus & Beck, Valentin (Hg.): Hinter Mauern – Fürsorge und Gewalt in kirchlich geführten Erziehungsanstalten im Kanton Luzern. Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2013.
Seglias, Loretta, Heiniger, Kevin, Bignasca, Vanessa, Häsler Kristmann, Mirjam, Heiniger, Alix, Morat, Deborah & Dissler, Noemi: Alltag unter Zwang. Zwischen Anstaltsinternierung und Entlassung. Veröffentlichungen der Unabhängigen Expertenkommission (UEK) Administrative Versorgungen, Bd. 8. Zürich: Chronos 2019.
Su.: Die Burg der Tränen. Ein Buch klagt an und wird verboten!, in: Vorwärts, 3. Mai 1945, S. 16 https://paulsenn.ch/images/paulsenn-reportagen/12450503_2.pdf
Tackenberg, Marco: Jugendunruhen, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Version vom 24. März 2011 https://hls-dhs-dss.ch/articles/017349/2011-03-24
Websites
Kanton Aargau. Jugendheim Aarburg. https://www.ag.ch/de/verwaltung/dvi/strafverfolgung-strafvollzug/jugendheim-aarburg
Häfeli G. (24.04.2014): Unschuldig eingesperrt, in: TagesWoche https://tageswoche.ch/allgemein/unschuldig-eingesperrt/index.html
Häfele G. (2014): Der Junge, das Amt und das Leben – kein Märchen. Blog https://gerri3003.wordpress.com/2014/03/27/der-junge-und-das-amt-und-das-leben-kein-marchen
Rüesch Sophie (14.02.2015): 20 Jahre Letten – Ex-Drogensüchtiger erzählt, wie es ihm am Letten ergangen ist, in: Limmattaler Zeitung https://www.limmattalerzeitung.ch/limmattal/region-limmattal/ex-drogensuchtiger-erzahlt-wie-es-ihm-am-letten-ergangen-ist-ld.1673808
Autorinnenporträt
Vreni Kunz, ehem. Verantwortliche Onlinekommunikation, Webmasterin, forschte als Bürgerin zum Thema «Fremdplatzierung» im Citizen-Science-Projekt «Was war bekannt?».
Link zu diesem Artikel: Deep-Link wird hier generiert