Für immer in einer Erziehungsanstalt? Der «Fall» Willy Müller
Fazitbox
Der Artikel zeigt die Bedeutung der «Erziehungsanstalt» im 20. Jahrhundert auf. Ausgehend von einem «Fall» aus einem NZZ-Artikel werden die Geschichte der «Erziehungsanstalten» im 20. Jahrhundert sowie das Jugendstrafgesetz mittels Sekundärliteratur aufgearbeitet. Die Analyse zeigt, dass die «Erziehungsanstalten» primär dazu dienten, die Gesellschaft vor Menschen, die nicht den bürgerlichen Normen entsprachen, zu schützen und deren Verhalten zu korrigieren, um sie aus der damaligen Sicht des Staates gesellschaftstauglich zu machen.
Rubrik: Heimunterbringung in den Medien
Untersuchungszeitraum: 1968–1972
Medium: Neue Zürcher Zeitung
Am 9. April 1968 erschien in der Neuen Zürcher Zeitung ein Artikel mit dem Titel «Ein Leben in Erziehungs- und Strafanstalten» (NZZ, 09.04.1968). Darin wurde die Biografie eines jungen Erwachsenen namens Willy Müller umrissen, der es kaum geschafft hatte, ein Leben ausserhalb der Erziehungs- und Strafanstalt zu führen. Willys Eltern liessen sich in seinem vierten Lebensjahr scheiden, was dazu führte, dass er mit seinen Geschwistern bei seiner Tante in «geordneten Verhältnissen» aufwuchs (ebd.). Mit siebzehn Jahren gerät der Jugendliche «auf die schiefe Bahn, die er bis jetzt nie mehr zu verlassen imstande war» (ebd.). Aufgrund eines Diebstahls wurde er mit drei Monaten «Einschliessung» bestraft. Darauffolgend wurde Willy wegen Veruntreuung erneut bestraft, aber diesmal mit der Einweisung in eine «Erziehungsanstalt». Später, als er volljährig war, kam er infolge eines Vermögensdeliktes in eine «Arbeitserziehungsanstalt» und daraufhin in ein Zuchthaus aufgrund eines erneuten Deliktes. Der Artikel endet damit, dass der Angeklagte Zeit seines Lebens nie lange auf freiem Fuss blieb.
Als Teilnehmende des Citizen-Science-Projekts «Was war bekannt? Das Thema ‹Fremdplatzierung› in Schweizer Tageszeitungen» habe ich mich mit verschiedenen Zeitungsartikeln aus dem 20. Jahrhundert beschäftigt. Der Artikel über Willy Müller ist mir besonders ins Auge gesprungen, da hier ein Leben umrissen wurde, das aus heutiger Betrachtung kaum nachzuvollziehen ist. Es sind nicht die begangenen Straftaten, die mich erstaunten, sondern die dauerhafte Unterbringung in einer «Anstalt». Die folgenden Fragen haben mich beschäftigt: Weshalb wurde keine andere Strafe oder ein anderes Strafmass gewählt? Ist man mit Begehen einer Straftat immer ein Verurteilter? Um diesen «Fall» besser verstehen zu können, habe ich mich mit den sozialen, rechtlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen dieser Zeit der Entwicklung der «Erziehungsanstalten» sowie dem Jugendstrafgesetz auseinandergesetzt.
Ich beginne mit einem kurzen Überblick über die Geschichte der «Erziehungsanstalten» im 19. und im 20. Jahrhundert. Anschliessend wird auf das Jugendstrafrecht im 20. Jahrhundert eingegangen. Diese Erkenntnisse nutze ich, um zum Schluss noch einmal den Artikel über Willy Müller einordnen zu können.
Die «Erziehungsanstalt» im 19. und im 20. Jahrhundert
Der Bedeutungsgewinn der «Erziehungsanstalten» im 19. und im 20. Jahrhundert ist auf zwei Ursachen zurückzuführen: Einerseits lag das in der zunehmenden Bearbeitung der «sozialen Frage» infolge des durch die Industrialisierung, die steigende Bevölkerungszahl und durch Hungersnöte entstandenen Pauperismus im 19. Jahrhundert. Andererseits ist die Relevanzzunahme der «Erziehungsanstalten» auch auf die Verwissenschaftlichung des Sozialen sowie die Professionalisierung im Bereich der Jugendfürsorge und der Psychiatrie zurückzuführen (Kappeler, 2018, S. 14).
Infobox: Pauperismus
Um 1800 wurde der Begriff pauperism für die zunehmende Armut, die auch als «Massenarmut» beschrieben wurde, in Grossbritannien populär. Vom Englischen wurde der Begriff in weitere Sprachen übernommen, so auch ins Deutsche. Die Notzeiten zu Beginn des 19. Jahrhunderts führten in der Schweiz zu intensiven Diskussionen über die «soziale Frage», die in den darauffolgenden Jahrzehnten weitergeführt wurde. Neben der Frage, wie Armut zu bekämpfen sei, wurde Armut zunehmend als Ausdruck eines gesellschaftlichen Zerfalls und damit als Bedrohung wahrgenommen, gegen diese es Massnahmen zu ergreifen galt. Die Lösungsansätze waren vielfältig. Neben der Schaffung von Arbeitsplätzen wurde die Auswanderung ebenso propagiert wie die Bekämpfung des Alkoholismus oder des Bettels und sie fanden teilweise Eingang in kantonale Armengesetze (vgl. Head-König & Schnegg, 1989; Jäggi, 2009).
Die Bekämpfung der Armut führte zum Erlass verschiedener kantonaler Armengesetze und zur Gründung verschiedener «Armenerziehungsanstalten». Die «arbeitsfähigen Armen» wurden von der Gesellschaft als eine Gefahr wahrgenommen. Mit Armut verband man häufig eine «liederliche Lebensführung und eine selbstverschuldete Verderbnis infolge von Schnapskonsum, Nichtsesshaftigkeit oder Prostitution» (Germann & Odier, 2019, S. 43). Die Errichtung von «Zwangsanstalten» wurde als ein Mittel erachtet, um dem Pauperismus und dessen Folgen entgegenzuwirken (Minder, 2017, S. 2). So beschreiben Germann und Odier (2019, S. 42), dass die Struktur solcher «Anstalten» «die Ängste der liberalen und konservativen Eliten» gegenüber der verbreiteten Armut widerspiegelte. In Ergänzung zu den kantonalen Armengesetzen wurden im ausgehenden 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts spezielle «Versorgungsgesetze» erlassen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es dann insofern zu einer Wende, als «disziplinarische armenrechtliche Bestimmungen in den Hintergrund» gerieten und «mehr und mehr Anliegen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit» in den Vordergrund gerückt wurden (Minder, 2017, S. 3). Damit verschob sich die Akzentuierung von «Fürsorge auf Vorsorge» (ebd.). Die Kantone erhielten nun das Recht, Massnahmen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zu ergreifen, was zumeist durch eine Einweisung in eine «Anstalt» erfolgte. Denn die «Anstalt» diente einerseits dazu, die Betroffenen durch harte Arbeit zu «einem arbeitsamen und bürgerlichen Leben» umzuerziehen. Andererseits wurde die Unterbringung in einer «Anstalt» auch als Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gesehen (ebd.).
Im Zuge der Professionalisierung von Jugendfürsorge und Psychiatrie seit der Wende zum 20. Jahrhundert dienten «Erziehungsanstalten» als Instrumente des intervenierenden Staates (Kappeler, 2018, S. 44). Vertreter:innen dieser beiden Professionen entschieden darüber, welche Menschen in eine «Erziehungs-» oder «Besserungsanstalt» kamen. Das Ziel bestand darin, die Betroffenen durch harte Erziehung als «brauchbare» Menschen in die bürgerliche Gesellschaft zu entlassen. Wurden hingegen die Ziele nicht erreicht, so blieben die Minderjährigen bis zu ihrer Volljährigkeit in Zwangserziehung und die Erwachsenen wurden Kappeler (ebd.) zufolge «oft lebenslang hinter den Anstaltsmauern aufbewahrt».
Ein weiterer Grund für eine Fremdunterbringung von Minderjährigen war das Begehen eines Deliktes, wie dies bei Willy im eingangs beschriebenen Beispiel der Fall war. Die Strafzumessung gemäss Schweizerischem Strafgesetzbuch erfolgte, wie im August 1968 in der Neuen Zürcher Zeitung berichtet wurde, anhand der Zuordnung in drei Kategorien (NZZ, 05.08.1968). Bei der ersten Kategorie handelte es sich um Jugendliche, die «sittlich verwahrlost», «sittlich verdorben» oder «gefährdet» seien (ebd.). Die Behörde hatte in solchen «Fällen» die Bemächtigung, den Jugendlichen in eine «Erziehungsanstalt» mit spezifischer strafrechtlicher Ausrichtung einzuweisen. Es wurde vorgeschrieben, dass der «Zögling» so lange zu bleiben habe, bis er die Erziehung nicht mehr nötig habe (ebd.). Dabei wurde von einer Mindestdauer von einem Jahr ausgegangen. Bei der zweiten Kategorie wurde die «Verdorbenheit» des Jugendlichen noch stärker betont (ebd.). Darüber hinaus konnte ein schweres Vergehen, das «einen hohen Grad der Gefährlichkeit offenbart», zur Einweisung in die «Erziehungsanstalt» führen. In diesem Fall hat der Jugendliche so lange in der «Erziehungsanstalt» zu verweilen, bis er sich «gebessert» habe (ebd.). Hier wurde von mindestens drei und höchstens von zehn Jahren ausgegangen. Bei der dritten Kategorie handelt es sich um die Jugendlichen, die «weder sittlich verwahrlost noch sittlich verdorben oder gefährdet sind» und die kein schweres Vergehen begangen haben (ebd.). Hier hatte die Behörde das Recht, die Betroffenen mit einem Verweis, einer Busse oder zuletzt mit einer «Einschliessung» von mindestens einem Tag bis zu einem Jahr zu bestrafen (ebd.). Hierbei wurde besonders hervorgehoben, dass die «Einschliessung» nicht im selben Gebäude vollzogen werden dürfe, «das als Straf- oder Arbeitsanstalt für Erwachsene dient» (ebd.).
Auffallend bei der Gesetzesbeschreibung ist der Begriff «Verwahrlosung». Die Jugendlichen wurden nicht als «strafunmündige Straftäter» bezeichnet, sondern als «verwahrloste Jugendliche» (Kappeler, 2018, S. 45). Damit wird die «Verwahrlosung» nicht als eine Folge und Ausdruck schlechter Charaktereigenschaften der Kinder und Jugendlichen wahrgenommen, sondern als verantwortungsloses Handeln der Erwachsenen. So wird die strafbare Handlung bzw. das Delikt als ein Verwahrlosungssymptom gedeutet (ebd., S. 46). Mit der «Verwahrlosung» wurde meist eine dauerhafte «Gefährdung» assoziiert (ebd.). Um die drohende «dauerhafte Schädigung» aufzuhalten, wurde die Einweisung in einer «Anstalt» angeordnet, um sie mit «härteren, deutlich an militärischer Disziplin ausgerichteten Methoden» zu «bessern». Die Wegnahme aus dem bestehenden Milieu wurde als notwendig erachtet (ebd.).
Der «Fall» Willy Müller als Beispiel für die Jugendstrafregelung der 1960er-Jahre
Wenn wir zurück zum Zeitungsartikel über Willy Müller kommen, dann fällt auf, dass in diesem Artikel die Scheidung seiner Eltern betont wird. Mit dieser Betonung wird die damit einhergehende Abweichung der gesellschaftlichen Normvorstellung, die sehr bedeutsam für diesen Zeitraum war, hervorgehoben. Wie bereits erwähnt wurde, umfasste das Idealbild das bürgerliche Familienleben. Die Unterstreichung dieses Scheidungsfaktors könnte bereits als eine Stigmatisierung wahrgenommen oder als ein Anzeichen für die kommenden Delikte aufgefasst werden. Spannend ist, dass demgegenüber das zeitweilige Aufwachsen Willys bei seiner Tante als «geordnetes Verhältnis» beschrieben wurde (NZZ, 09.04.1968).
Des Weiteren fällt auf, dass Willy in verschiedenen «Anstalten» untergebracht wurde. Dieser Umstand bringt die Bedeutung der «Anstalt» in diesem Zeitalter zum Ausdruck. Einerseits diente sie dazu, die Betroffenen vor der Gesellschaft zu schützen, andererseits wollte man durch ihre Herausnahme aus dem gewohnten Umfeld die Betroffenen zu gesellschaftskonformen Bürger:innen «umerziehen». Die Hoffnung auf eine «Umerziehung» war sehr gross. Jedoch zeigt dieses Beispiel auch, dass die Ziele nicht immer mit einer «Anstalt» erreicht werden konnten. Hier stellt sich die Frage, ob es dann sinnvoll ist, die Person lebenslang in einer «Anstalt» unterzubringen. Bemerkenswert ist, wie stark der Erziehungsgedanke in diesem Zeitalter noch immer im Vordergrund steht. Abschliessend könnte gesagt werden, dass Willy möglicherweise weniger Zeit in einer «Anstalt» verbracht hätte, wenn er wenige Jahrzehnte später gelebt hätte.
Quellen
Ohne Autor:in: Verwahrung für einen Gewohnheitsbetrüger, in: Neue Zürcher Zeitung, Morgenausgabe Nr. 222, 9. April 1968, S. 14 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=NZZ19680409-01.2.21.6
Ohne Autor:in: Strafe statt Nacherziehung?, in: Neue Zürcher Zeitung, Morgenausgabe Nr. 474, 5. August 1968, S. 14 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=NZZ19680805-01.2.20.1
Literatur
Germann, Urs & Odier, Lorraine: Administrative Versorgungen in der Schweiz 1930–1981. Synthese. In: Unabhängige Expertenkommission (UEK) Administrative Versorgungen (Hg.): Organisierte Willkür, Administrative Versorgungen in der Schweiz 1930–1981. Zürich: Chronos 2019, S. 13–305.
Head-König, Anne-Lise & Schnegg, Brigitte (Hg.): Armut in der Schweiz – la pauvreté en Suisse, Zürich: Chronos 1989.
Jäggi, Stefan: Pauperismus, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Version vom 24.11.2009 https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016091/2009-11-24
Kappeler, Manfred: Eine verhängnisvolle Verstrickung. Die Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Psychiatrie in der Geschichte der Heimerziehung, in: Barbara Fontanellaz, Christian Reutlinger & Steve Stiehler (Hg.): Soziale Arbeit und die soziale Frage, Spurensuchen, Aktualitätsbezüge, Entwicklungspotenziale. Zürich: Seismo 2018, S. 44–65.
Minder, Liliane Denise: Administrative Versorgungen im Spannungsfeld zwischen Bund und Kantonen. Freiburg 2017 https://www.unifr.ch/federalism/de/assets/public/files/Newsletter/IFF/17_3_2_Lilian%20Minder.pdf
Autorinnenporträt
Saranhy Thevarajah, geb. 1997, Studentin im Master Erziehungswissenschaften an der Universität Zürich, forschte im Projekt «Was war bekannt?» im Rahmen eines Forschungspraktikums mit. Ihre Interessen liegen im Bereich Sozialpädagogik und Historische Bildungsforschung.
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