Zur Rolle der Frau in Fürsorgeeinrichtungen in den Zwischenkriegsjahren
Fazitbox
Im Beitrag wird auf die Rolle der Frau im Fürsorgewesen eingegangen. Fokussiert wird auf die erwachsene Frau im sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Konstrukt. Es wurden ausgewählte Artikel aus der Berner Zeitung «Der Bund» und der Neuen Zürcher Zeitung aus der ersten Phase (1923–1928) analysiert.
Frauen haben im Bereich der Fürsorge, einschliesslich der Fremdplatzierung, gesellschaftlich erwartete Zuständigkeiten übernommen. Der Inhalt der freiwilligen oder der erwerbsorientierten Fürsorgepraxis wird nicht im Detail erläutert oder differenziert dargestellt. Fehlende Gesetzgebungen in Bezug auf die Frauenarbeit und finanzielle Mittel, wenig Gehör bei den männlichen Vorgesetzten oder die Tatsache, dass nur marginal über das Thema der individuellen Fremdplatzierung gesprochen und geschrieben wurde, könnten Hinweise darauf sein, dass sich die Situation in den darauffolgenden Jahren weiter zugespitzt hat.
Rubrik: Heimunterbringung in den Medien
Untersuchungszeitraum: 1923–1928
Medien: Neue Zürcher Zeitung, «Der Bund»
Die 1920er-Jahre werden mit Aufschwung und Moderne in Verbindung gebracht. Nach dem Ersten Weltkrieg zerfielen alte Normen und Strukturen. Wirtschaftliche Unabhängigkeit gewinnt für viele Frauen an Bedeutung, da sie während der Armeeabwesenheit der Männer deren berufliche Verantwortungen übernommen haben. Damit wurden die Erwerbsmöglichkeiten in der Zwischenkriegszeit für Frauen etwas vielfältiger, doch war gerade bei verheirateten Paaren ein klares klassisches Erwerbsmodell weiterhin vorherrschend (Head-König, 2015). Und während andere Länder das Frauenstimmrecht einzuführen begannen, hatte dieses Begehren in der Schweiz noch über Jahrzehnte keine Chance (De Vincenti et al., 2020; Voegeli und Seitz, 2023). Weltlich geschulte Frauen übernahmen auch zunehmend Aufgaben als Betreuungspersonen und Erzieherinnen im Schulbetrieb und in anderen Fürsorgeeinrichtungen.
Im Fokus des vorliegenden Beitrags steht die mediale Darstellung der Frauen in diesen Tätigkeitsbereichen. Hierzu habe ich Zeitungsartikel aus der Berner Zeitung «Der Bund» und der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ), die zwischen 1923 und 1928 veröffentlicht wurden, untersucht. Zunächst werde ich einen allgemeineren Blick auf die Berichterstattung über Fürsorgeeinrichtungen werfen und danach auf die Frage der Sichtbarkeit der Frauen eingehen.
Fürsorgeeinrichtungen in der Medienberichterstattung
Über den notwendigen Ausbau der Amtsvormundschaft wird in der Zeitung sachlich berichtet (NZZ, 05.12.1923).Hier folgen häufig Berichte über finanzielle Gegebenheiten oder aber fehlende Gesetze, welche eine rasche Problemlösung verhindern. Ein Vorsteher einer Privatanstalt berichtet von finanziellen Nöten, der Ohnmacht im Bereich der Jugendfürsorge und der wichtigen Rolle der Vernetzung von verschiedenen Vereinen und Organisationen wie bspw. Pro Juventute (ebd.).
Infobox: Amtsvormundschaft
Eine Vormundschaft ist eine gesetzliche Vertretung für eine unmündige Person und schliesst die Vermögensverwaltung ein (vgl. Bühler, 2013). Eine Vormundschaft wurde bei Minderjährigen eingesetzt, wenn Eltern ihre elterlichen Pflichten nicht wahrnehmen konnten oder diese ihnen von behördlicher Seite abgesprochen wurden.
Vormundschaften können alle mündigen Personen übernehmen. Ein Amtsvormund oder eine Amtsvormundin ist ein Vormund, der von der zuständigen Behörde gestellt wird.
Mit der Einführung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches 1912 wurde das Vormundschaftsrecht gesamtschweizerisch geregelt, die Umsetzung in der Praxis war je nach Kanton unterschiedlich. 2013 wurde das Vormundschaftsrecht in der Schweiz revidiert und durch das Kindes- und Erwachsenenschutzrecht ersetzt. Amtsvormundschaften und ‑beistandschaften werden seither von der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) bestimmt.
Zur Tonalität kann erwähnt werden, dass diese oftmals sachlich auf finanziellen und gesetzlichen Bestimmungen beruht. Es wird von den Nöten gesprochen und an welche Stelle willkommene Spenden getätigt werden können. Einrichtungen und deren Leitung werden positiv und als unentbehrlich angesehen. Auf das Kind oder die:den Heranwachsende:n als Individuum wird nicht gross Bezug genommen. Erwähnung findet jedoch fehlendes Personal oder räumliche und finanzielle Missstände. Das Thema der Fremdplatzierung erhält eine nebensächliche Rolle. Wichtiger scheinen die Schaffung eines grösseren Bewusstseins und das Erreichen eines breiten Publikums für die Themenbereiche Fürsorge und Erziehung. Das Geschlecht spielt in den analysierten Berichten eine nebensächliche Rolle: Es ist hauptsächlich von männlichen Leitern von Einrichtungen, Lehrern oder Ärzten die Rede, welche beispielsweise Vorträge hielten. Demgegenüber wird sachlich von der Errichtung einer Elternberatungsstelle durch die Frauenzentrale berichtet (NZZ, 09.05.1924). Auch die gemeinnützige Arbeit wird in diesem Kontext oft erwähnt. Die NZZ hat eine eigene Rubrik «Fürsorge». Fremdplatzierung wird da unspezifisch erwähnt (ebd.).
Emotionalere Beiträge lassen sich in Form von Leser:innenkommentaren finden. M.N. beispielsweise schreibt über die Umdeutung der öffentlichen und der privaten Fürsorge. Es gehe dabei nicht mehr nur um Mitleid oder Barmherzigkeit, sondern auch um Verstehen und Gerechtigkeit (NZZ, 12.03.1926). Weiter wird in dem Kommentar von den Gesellschaftsstrukturen gesprochen, welche ein funktionierender Staat benötigt. Ein lebenswürdiges Dasein sei das Ziel, und das Fürsorgewesen müsse verstehen, wie man einen «Volksschaden» beheben könne. Ausserdem wird auf die Soziale Frauenschule Zürich Bezug genommen. Diese konzentriert sich auf die Berufsbildung von Frauen, welche sich um das «soziale Wohl des Volkes» kümmern (ebd.).
Frauen und Geschlechterfragen in der Medienberichterstattung
Die Zeitung «Der Bund» beinhaltet in den 1920er-Jahren eine Rubrik «Für die Frauen». Darin werden verschiedene Aspekte des Frauseins thematisiert. Ebenso gibt es modern anmutende Beiträge wie «die überholte Institution der Ehe in Amerika» (Der Bund, 11.02.1923). Auch wird in einem Artikel über Verschiedenheit und Gleichheit von Jungen und Mädchen berichtet und welche Eigenschaften besonders auffällig respektive geschlechtsspezifisch seien (ebd.). Das Thema der Erziehung lässt sich beispielhaft in folgendem Artikel finden: «Auch in intellektueller Hinsicht ergänzen sich Männer und Frauen, woraus folgt, dass es völlig verkehrt wäre, die Erziehung beider Geschlechter zu uniformieren [Anm. der Redaktion: veralteter Begriff für vereinheitlichen] und von Männern und Frauen auf allen Gebieten gleiche Leistungen zu erwarten» (ebd.).
Die Tätigkeit von Frauen im Schulbetrieb ist ebenfalls Gegenstand der Berichterstattung: «Der Umstand, dass sich die Aufgaben der Schule durch hygienische Fürsorge, Fürsorge für sittlich gefährdete Kinder, Ferienversorgung usw. vermehrt haben, lässt die Mitarbeit der Frau in den Schulkommissionen als begründet erscheinen; sie hat sich bis dahin bewährt» (ebd.). Genannt werden demnach die Wichtigkeit der Vernetzung zwischen der Schule und dem Elternhaus sowie die Ausweitung der Schulkommission.
Die erwerbstätige Frau in der Fürsorge
Welche Persönlichkeitsmerkmale einer Frau zugeschrieben werden und weshalb sie in der Funktion als Angestellte in der sozialen Fürsorge unabdingbar sei, wird durch das obige Zitat erkennbar. Ein normatives Bild der Frau wird dargestellt. Der Autor / die Autorin geht von der Annahme aus, dass jedes Individuum, respektive jede Frau, eine für sich passende Aufgabe im Tätigkeitsbereich der Fürsorge finden wird. Kritisch zu hinterfragen ist, ob die Berufswahl aus freiem Willen geschieht oder stark durch kulturelle und gesellschaftliche Normen vorgegeben und geprägt ist. Durch eine segregierende geschlechtergetrennte Berufsschulung und deren Ausübung wurden unterschiedliche Fürsorgeberufe für Frauen möglich.
Über Zahlen und Berufsfelder, in denen Frauen tätig sind, wird sachlicher geschrieben. Über folgende Ausbildungen und Tätigkeitsbereiche wird in der NZZ informiert: Mütterberatungsstellen, Krippen, Horte, Ferienheime, Jugendanwaltschaft, Amtsvormundschaft, Waisenämter, Armenpflege oder Krankenpflege (NZZ, 12.03.1926; NZZ, 24.08.1928).
In einem längeren Artikel schreibt Maria Fierz über die «Schweizerfrau in der Fürsorge» (NZZ, 26.08.1928). Sie zeigt die lange Geschichte eines Frauenvereins auf, welcher im Jahr 1888 gegründet wurde, wie viele Mitglieder dieser gemeinnützige Verein hat und welche weiteren Frauenvereine und -verbunde in der Schweiz tätig sind. Im genannten Bericht wird kurz über Mängel in den Organisationen gesprochen: «von fehlendem Einfühlungsvermögen und Verständnis im Verkehr mit Schutzbefohlenen» (ebd.). Doch sei indes die geleistete Freiwilligenarbeit nicht zu verachten. Die neue Entwicklung hin zur Fürsorge im Berufswesen und somit die soziale Berufsarbeit beinhalte eine wichtige wirtschaftliche Einnahmequelle, so der Bericht weiter. Es werde zukünftig mehr Frauen im Berufsfeld brauchen, denn die «Not der Massen» werde immer deutlicher und die freiwillige Fürsorge werde zur Aufgabe des Staates und von dessen Gesellschaft. Frauen würden häufiger eingestellt, meist aber nicht auf Positionen wie die männlichen Erwerbstätigen. Doch gerade um die sozialen Fragen beantworten zu können, brauche es Frauen, welche durch die ausgeprägten sozialen Fähigkeiten die Erkenntnis schaffen, dass die Welt nicht nur aus «Ausbeutern und Ausgebeuteten» besteht (ebd.).
Schlussfolgerungen
Die Frau hatte in Bezug auf die Fremdplatzierung in den 1920er-Jahren nur eine untergeordnete Rolle in den untersuchten Medien. Nichtsdestotrotz hatte die Frau auf verschiedene Art und Weise einen direkten oder indirekten Bezug auf das Thema der Fremdplatzierung. Die Frau wird in diesem Jahrzehnt mit Eigenschaftsmerkmalen wie dem empathischen Wesen beschrieben, was nicht nur in der Rolle der Mutter, sondern auch in Freiwilligenarbeit oder sozialen Berufen vonnöten sei. Die Rubrik «Für die Frauen» scheint als etwas Gewagtes, Freies und Unabhängiges, wobei in dieser Sparte jeweils von den aussergewöhnlichen Errungenschaften im Ausland berichtet wird. Die Berichterstattung zur Schweiz ist einem traditionellen Rollenbild näher. Leser:innenbriefe sind hingegen oftmals kritisch und hinterfragen das gesellschaftliche System. Frühe Ansätze von Krippen oder Kindergärten werden diskutiert sowie auch eine Besserstellung unverheirateter Mütter und eine finanzielle Entschädigung geleisteter Arbeit. In den anderen Rubriken der Zeitung wird eher nüchtern über fehlende Finanzen oder messbare Daten und Fakten im Bereich der Fürsorge berichtet.
Mitteilungen über die wachsende Anzahl von Hilfsbedürftigen und somit des notwendigen weiblichen Personals scheinen manchmal gar als Werbekampagne für die Erwerbstätigkeit in der sozialen Fürsorge. «Anstalten», Verbände oder Kommissionen mit weiblicher Mitwirkung werden aufgeführt. Die gesellschaftliche Erwartung an eine heranwachsende Frau mit besonders differenzierten sozialen und empathischen Fähigkeiten ist erkennbar. Es lässt sich abschliessend festhalten, dass Frauen im Bereich der Fürsorge, einschliesslich der Fremdplatzierung, gesellschaftlich erwartete Zuständigkeiten übernommen haben. Der Inhalt der freiwilligen oder der erwerbsorientierten Fürsorgepraxis wird nicht im Detail erläutert oder differenziert dargestellt. Fehlende Gesetzgebungen und finanzielle Mittel, wenig Gehör bei den männlichen Vorgesetzten oder die Tatsache, dass nur marginal über das Thema der individuellen Fremdplatzierung gesprochen und geschrieben wurde, könnten Hinweise darauf sein, dass sich die Situation in den darauffolgenden Jahren weiter zugespitzt hat.
Quellen
Fierz, Maria: Die Schweizerfrau in der Fürsorge, in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 1532, 26. August 1928, S. 2 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=NZZ19280826-01.2.42
K.N.: Jugend und Amtsvormundschaft, in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 1687, 5. Dezember 1923, S. 1 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=NZZ19231205-02.2.18
M.N.: Aus der sozialen Frauenschule Zürich, in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 396, 12. März 1926, S. 1 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=NZZ19260312-02.2.27
Mz.: Die Arbeit der Frau in der Schule, in: Der Bund, Nr. 63, 11. Februar 1923, S. 5 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=DBB19230211-01.2.47.2
Ohne Autor:in: Kinematographisches. Ein Fürsorgefilm, in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 1744, 14. Dezember 1923, S. 1 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=NZZ19231214-01.2.23
Ohne Autor:in: Für die Jugend. Erziehungsberatungsstellen, in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 685, 9. Mai 1924, S. 2 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=NZZ19240509-02.2.22
Ohne Autor:in: Die Frau in der Gesundheits- und Krankenpflege, in: Der Bund, Nr. 394, 24. August 1928, S. 5 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=DBB19280824-02.2.12
Th.: Vorträge über die Schule, in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 217, 13. Februar 1924, S. 2 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=NZZ19240213-01.2.23
Literatur
Bühler, Theodor: Vormundschaft, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Version vom 30.07.2013 https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016103/2013-07-30
De Vincenti, Andrea, Grube, Norbert & Hoffmann-Ocon, Andreas: 1918 in Bildung und Erziehung. Traditionen, Transitionen, Visionen. Bad Heilbrunn 2020.
Head-König, Anne-Liese: Frauenerwerbsarbeit, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Version vom 05.03.2015 https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/013908/2015-03-05
Künzi, Renat: Der Börsenkrach erschüttert auch die Schweiz. Swissinfo, 26.10.2004 https://www.swissinfo.ch/ger/der-boersenkrach-erschuetterte-auch-die-schweiz/4165700
Voegeli, Yvonne & Seitz, Werner: Frauenstimmrecht, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Version vom 04.04.2023 https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/010380/2023-04-04
Autorinnenporträt
Nicole Philipp, geb. 1990, Masterstudentin Erziehungswissenschaft an der Universität Zürich und Primarlehrperson im Kanton Zürich, im Forschungspraktikum Datenauswertung und -analyse zum Forschungsprojekt «Was war bekannt?»
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