Ein Konflikt zwischen Bürokratie und Kindeswohl – zur Berichterstattung über die Kündigung eines Heimleiters im Jahr 1977
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Der Beitrag verdeutlicht bezüglich einer Heimleiterentlassung, wie Medien unterschiedliche Erwartungshaltungen an Heime seitens Politik, Bevölkerung und darin Wirkenden/Lebenden spiegeln, gewichten oder gar mitbestimmen. Anhand einer grösseren Artikelreihe aus den Berner Tageszeitungen «Der Bund» und «Berner Nachrichten» im Jahr 1977 werden durch ein Close Reading die wichtigsten Aspekte ausgearbeitet. Zentral beschrieben werden darin die zwei gegenüberliegenden Positionen der zugunsten des Heimleiters sprechenden Personen und der für die Anstellung des Heimleiters verantwortlichen Gemeinde. Die Bevölkerung legt den Fokus auf eine pädagogisch professionelle Heimleitung, die politische Gemeinde auf die Einhaltung von Kompetenzen und den Vollzug von Reglementen. Die betroffenen Personen (Heimleitung und insbesondere Heimkinder) kommen kaum zu Wort.
Rubrik: Heimunterbringung in den Medien
Untersuchungszeitraum:1974–1981
Medium: «Der Bund»
Mit der Frage «Was war bekannt?» stellt sich bzgl. Fremdplatzierung die Frage, worüber in den Medien wie und wozu berichtet wurde und auf welche Erwartungen diese Berichte in der Leserschaft trafen, welche wiederum aus einer gesellschaftlichen Haltung heraus reagierte. Was wurde mitgeteilt, was nicht, wo ins rechte Licht gerückt und aus welcher Perspektive, unter welchen Bedingungen und welche vitalen Interessen spielten in solchen Begebenheiten mit?
Die unterschiedlichen Interessen und Erwartungen seitens Politik und Bevölkerung an Heime und die darin Wirkenden/Lebenden werden durch Medien gespiegelt. Dies zeigt sich anhand einer recherchierten Artikelreihe über ein Heim, welche im Jahr 1977 mit rund zehn Artikeln über mehrere Monate in den Berner Tageszeitungen «Der Bund» und «Berner Nachrichten» veröffentlicht worden ist. Der Fall zog aufgrund seiner häufigen Medienpräsenz die Aufmerksamkeit der Autorin dieses Beitrags auf sich. Beide Zeitungen berichteten ausführlich über die Kündigung eines in der Bevölkerung geschätzten Heimleiters durch die Gemeinde. Durch die unterschiedlichsten Beiträge über das Heim kristallisieren sich drei Hauptakteure heraus: erstens der Heimleiter, der zwischen Reglementen, Gesetzen und pädagogischem Wissen und seinen persönlichen Urteilen agiert; zweitens die Gemeinde, die als Arbeitgeberin die Umsetzung von Gesetzen und die Aufsicht der Heimangestellten zur Aufgabe hat; und drittens die Initianten, welche sich in Anerkennung der Professionalität des Heimleiters und zum Wohle der Kinder gegen eine Entlassung aussprachen. Dazu zählten Eltern von Heimkindern, Arbeitskollegen, Freunde und andere Personen. Über die jeweiligen Motivationen und Gründe für mögliche rechtliche Verfehlungen der verschiedenen beteiligten Akteure können nur Annahmen getroffen werden. Diese werden am Ende der Ausführungen in Thesen vorgestellt.
Was man über das Heim in der Berichterstattung erfährt
Durch den in den Medien ausführlich und zum Teil sehr emotional beschriebenen Kündigungsprozess des Heimleiters wurde auch der Fokus auf die sonst selten thematisierten heiminternen Abläufe gerichtet, sodass die Leser:innen von Heimstrukturen, Finanzierungen, Qualitätsmerkmalen und Details über die in der Einrichtung platzierten Kinder und Jugendlichen erfuhren. Ebenfalls wurde bei diesem Heim durch die «Berner Nachrichten» (07.01.1977) und den «Bund» (01.04.1977) der Wandel des Heims beleuchtet. So wird die Konzeptänderung des Heimes mit der 1972 «neu» eingestellten Heimleitung erwähnt, welches bis zu jenem Zeitpunkt von zwei Ordensschwestern geführt worden war (Der Bund, 01.04.1977). Das Heim beherbergte knapp dreissig nicht pflege- und sonderschulbedürftige Kinder. Kinder und Jugendliche, die in diesem Heim untergebracht wurden, galten als «Sozialfälle». Dazu zählten Kinder aus Familien mit einem «kranken Elternteil», «unehelich Geborene» (mit arbeitenden Müttern), Waisen, Kinder, die aus sozialen Gründen nicht mehr zu Hause wohnen konnten, oder solche, die durch das «Milieu» «geschädigt» worden seien. Das gesamte verantwortliche Personal des Heims wurde in den Artikeln namentlich erwähnt ebenso die Mitglieder der Fürsorgekommission, welcher das Heim unterstand, und die wiederum der Gemeinde unterstellt war. Die Kostenträger des Heimes waren die Steuerzahler:innen (ebd.).
Die Folgen des Kündigungsschreibens
In der Berichterstattung wird auf die Sichtweise und das Handeln der Gemeinde, des Heimleiters sowie der Leserschaft eingegangen.
Perspektive Gemeinde
Die Gemeinde warf dem Heimleiter «Kompetenzüberschreitung und Aufsässigkeit» (Berner Nachrichten, 07.01.1977) und «schwerwiegende Meinungsverschiedenheiten» (Der Bund, 11.01.1977) vor. Zudem habe die Fürsorgekommission bereits zwei Jahre zuvor den «unerträglichen» Zustand beenden wollen (Berner Nachrichten, 07.01.1977) und zu einem Gespräch eingeladen. Als Beweis wurden den «Berner Nachrichten» von Behördenseite verschiedene Kündigungsgründe wie Schwierigkeiten mit Angestellten und Budgetübertretungen genannt. Es habe ausserdem «von Anfang an immer wieder Schwierigkeiten» mit dem Heimleiter gegeben (ebd.). Diese eher vagen Aussagen dementierte der betroffene Heimleiter im selben Artikel als unbefugte Veröffentlichung seitens der Behördenvertreter, die mit der Zeitung gesprochen haben. Des Weiteren soll es längere Schwierigkeiten mit der Aufsichtsbehörde gegeben haben (Der Bund, 15.01.1977). Die Differenzen hätten sich nicht auf die erzieherischen Bereiche bezogen, sondern die administrativen (Der Bund, 23.02.1977). Der Heimleiter habe sich nicht an «die Schranken, die ihm als Gemeindeangestellten auferlegt seien, halten wollen und eine Autonomie beansprucht, die ihm die Gemeinde nicht habe gewähren können» (ebd.).
Perspektive Leserschaft
Die Bevölkerung reagierte auf die Kündigung «bestürzt» mit einer Briefaktion, die den Heimleiter unterstützte. Veröffentlicht wurden daraus Wortmeldungen eines Luzerner Amtsvormundes, einer Lehrerin und einer erbosten Mutter (Der Bund, 15.01.1977). Die Briefaktion wurde von weiteren Personen aus dem Umfeld der Eltern, der Schule und von unterschiedlichen Stellen in einzelnen Behörden unterstützt. In den Briefen wurde der Heimleiter erzieherisch als «untadelig» beschrieben. Die anstellenden Behörden hingegen wurden als «vorsintflutlich gesinnt» bezeichnet und ihnen wurde ein «völlig unverständliche[s] Vorgehen» vorgeworfen (ebd.). Die Briefe wurden zusammen mit einem Schreiben an den Gemeinderat und als Kopie an das kantonale Jugendamt und das Regierungsstatthalteramt weitergeleitet (ebd.), sodass die Thematik weitere politische Kreise zog. Ziel war es, die Behörde zum Überdenken ihres Entscheides zu bewegen. Sogar im Gemeinderat gab es Vertreter, die sich gegen die Entlassung stellten und gar eine offizielle Untersuchungskommission forderten (Der Bund, 15.01.1977). Dennoch blieb die Aktion erfolglos. Eine offizielle Begründung für den Kündigungsbeschluss wurde nach dem Artikel (Der Bund, 15.01.1977) der Bevölkerung vorenthalten, was zu weiteren Spekulationen führte.
Perspektive Heimleiter
Aus dem Artikel geht hervor, dass der Heimleiter von der Redaktion der «Berner Nachrichten» angefragt worden war und sich freundlich, aber reserviert auf keine verbindlichen Antworten eingelassen hatte (Berner Nachrichten, 07.01.1977). Er begründete dies mit der Absicht, keine «unvollendeten Tatsachen» an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen. Zu vermuten ist, dass die Heimleitung damit verhindern wollte, dass unabgeschlossene Entscheide an die Öffentlichkeit gelangen sollten. Er äusserte sich ebenfalls nicht gegenüber den «Berner Nachrichten» zu den angelaufenen Aktivitäten. Es ist zu vermuten, dass die später im «Bund» benannte «Briefaktion» (Der Bund, 15.01.1977; 29.01.1977) von Freunden des Heimleiters initiiert wurde. Gemäss Artikel im «Bund» wehrte sich der Heimleiter «vehement» gegen seine Entlassung und habe durch einen Anwalt einen Informationsstopp von behördlichen Aussagen an die Öffentlichkeit verfügen lassen (15.01.1977).
Der weitere Prozessverlauf
Interessanterweise verfügten weder der Heimleiter noch die Fürsorgekommission oder der Fürsorgesekretär über ein verbindliches Pflichtenheft (Der Bund, 15.01.1977). Der Artikel (ebd.) gewichtete dieses Fehlen des Pflichtenheftes als Ursprung allen Übels und mutmasste, dass womöglich mit einem Pflichtenheft keine «Kompetenzverletzungen» entstanden wären (ebd.). Pflichtenhefte hätten durch eine Motion eines Gemeinderatsmitglieds einst eingeführt werden sollen, seien aber durch die «ablehnende Haltung» des Gemeinderates zurückgezogen worden, da «das Klima noch nicht geschaffen gewesen sei». Die Folgen hätten später die Heimkinder zu tragen, welche nach dem unfreiwilligen Weggang des Heimleiters und seiner Ehefrau ihre «Heimeltern» verloren hätten (Der Bund, 29.01.1977). Das Thema blieb nach dem öffentlichen Schlagabtausch noch lange Gegenstand der im Gemeinderat besprochenen Geschäfte. So wurde die Thematik auch Ende Juni 1977 im Grossen Gemeinderat wieder aufgegriffen, da eine interimistische Leitung nach der Kündigung eingesetzt worden war (Der Bund, 01.04.1977) und für eine zukünftige Heimleitung ein Pflichtenheft erstellt werden sollte (Der Bund, 29.06.1977). Die Behörden mussten sich mit den Reglementen und Ordnungen des Heimes befassen und es wurde dann ein neues Reglement für das Kinderheim erstellt, welches seit 1958 nicht mehr aktualisiert worden war (Der Bund, 19.10.1977). Damals hätte das Reglement im Gemeinderat verabschiedet werden sollen, wurde dann aber durch einen Änderungsvorschlag des Kantons vorerst wieder von der Traktandenliste gestrichen (Der Bund, 26.10.1977).
Letztlich zog der Gemeinderat einen Schlussstrich, indem er über seinen Entscheid der Kündigung orientierte und über das fehlende Pflichtenheft vernehmen liess, dass dieses bereits 1975 als Entwurf bestanden habe, «aber der Heimleiter nicht gewillt gewesen [sei], sich an diesen Rahmen zu halten» (Der Bund, 29.01.1977). Die Begebenheit zog auch auf privater Ebene weitere Kreise, da laut dem «Bund» persönliche Angriffe auf die federführenden Behördenvertreter erfolgt oder gar deren Kinder in der Schule «angerempelt» worden seien (Der Bund, 23.02.1977).
Einen halben Monat nach dem Weggang des Heimleiters veröffentlichte der «Bund» (14.04.1977) erneut einen Leserbrief, der den noch immer bestehenden Unmut über das «befremdende» bürokratische Vorgehen der Kündigung deutlich zum Ausdruck brachte. Die Grundsatzfrage, welcher Wert bei dem Vorgehen den Heimkindern beigemessen wurde, wird darin zentral behandelt. Die Leserbriefschreiberin beklagt, dass amtliche Vorschriften gewichtiger seien als das psychische Wohlergehen von dreissig Kindern, welche besonders auf stabile und dauerhafte Ersatzeltern angewiesen seien, um ein geordnetes und sozial angepasstes Verhalten aufzubauen. Durch die Kündigung seien die Kinder «ihrer Ersatzeltern beraubt worden», sie hätten «Längizyt und weinen vermutlich manchmal». Sie würden nun zwar «fachmännisch» versorgt, die neue Leitung sei aber bloss «interimistisch», so würden die Kinder «gelehrt, dass Menschen austauschbar sind» (ebd.). Die Leserbriefschreiberin warf der Behörde also vor, dass sie das Wohl der Kinder bei der Kündigung des Heimleiters nicht im Blick gehabt habe. Sie spricht vom «Amtsschimmel» und schlägt den «Betreuerwechsel der Schreibmaschine» vor, auf welcher das Kündigungsschreiben verfasst wurde, da die Schreibmaschine «den Betreuerwechsel besser verkraften würde als die Kinder vom Heim» (ebd.).
Fazit zur Medienberichterstattung
Der Verlauf des Prozederes deutet auf ein Versäumnis der für die Anstellung verantwortlichen Behörde hin, da das fehlende Pflichtenheft bis zur Kündigung nicht wirklich zur Sprache kam. Auch werden in zwei unterschiedlichen Artikeln zwei Behördenmeinungen zu den Gründen dafür skizziert (Der Bund, 15.01.1977; 23.02.1977). In einem zeitlich früher erschienenen Artikel scheint neutral formuliert, dass «das Klima dazu noch nicht geschaffen» gewesen sei (Der Bund, 15.01.1977), und im späteren Artikel wird gezielt der Heimleiter beschuldigt, das sich im Entwurfsstadium befindende Reglement nicht berücksichtigt zu haben (Der Bund, 23.02.1977). Zusätzlich spitzt sich das Problem in der Presse auf persönlicher Ebene zu, indem «private Angriffe» (Der Bund, 23.02.1977) beklagt werden.
Hätte der Fall auch eine solche Dimension angenommen, wenn es ein Pflichtenheft und aktuelle angepasste Reglemente gegeben hätte? Die Frage stellt sich, ob hierbei von einer versäumten Arbeit auf behördlicher und bürokratischer Seite abgelenkt wird.
Für die Bevölkerung und die Leser:innenschaft war nebst der Ungereimtheit des Pflichtenheftes noch ein ganz anderes Thema zentral, das durch die Briefaktion und den Leserbrief klar zum Ausdruck kommt. Die Frage nach moralischer und ethischer Richtigkeit über einen Kündigungsentscheid in einem erzieherischen Tätigkeitsfeld. Vereinfacht dargestellt standen sich für die Personen, die sich in der Briefaktion äusserten, die Bürokratie und erzieherische Qualitäten in der kindlichen Fürsorge gegenüber. Wobei Letztgenannten höhere Priorität zugeschrieben wurde. Diese unterschiedliche Gewichtung weist möglicherweise darauf hin, dass die Unterstützer:innen des Heimleiters sich zu einer Kinderfürsorge bekannten, die das Wohl der Kinder höher gewichtete als das Bestehen auf geregelte Abläufe. Noch wenige Jahre zuvor waren kritische Stimmen in den Medien kaum zu finden, die das Wohlergehen der Kinder im Fokus hatten. Dass dies nun von aussen kommt und medial aufgegriffen wird, ist aus anderer Forschung noch kaum bekannt.
Während der Heimleiter sich offenbar dazu entschieden hat, sich in den Medien nur sehr zurückhaltend zu äussern, sind die Stimmen der Heimkinder dieser Einrichtung in der Presse nicht zu vernehmen. Darin schreibt sich fort, was sich in früheren Jahren auch gezeigt hat.
Quellen
Bib: Die Wogen haben sich geglättet, in: Der Bund, Nr. 77, 1. April 1977, S. 23 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=DBB19770401-01.2.38.1
Bib: Mehr Lohn für Mitarbeit in Behörden, in: Der Bund, Nr. 245, 19. Oktober 1977, S. 13 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=DBB19771019-01.2.21.9
Blb: Erwartete «Heimdiskussion» blieb aus, in: Der Bund, Nr. 45, 23. Februar 1977, S. 13 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=DBB19770223-01.2.21.7
Doe: Pro und Contra scheiden die Gemüter – bald neuer Leiter im Kinderheim Schoren?, in: Berner Nachrichten, 7. Januar 1977, S. 14.
Sieber, U.: Betroffen sind vorab die Kinder, in: Der Bund, Nr. 12, 15. Januar 1977, S. 23 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=DBB19770115-01.2.33.3
Usb: Ein Sozialdemokrat an der Spitze, in: Der Bund, Nr. 8, 11. Januar 1977, S. 9 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=DBB19770111-01.2.16.3
Usb: Gemeinderat hält an Kündigung fest, in: Der Bund, Nr. 24, 29. Januar 1977, S. 22 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=DBB19770129-01.2.31.4
Usb: Nicht auf Kosten der Sicherheit sparen, in: Der Bund, 29. Juni 1977, S. 15 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=DBB19770629-01.2.27.1
Usb: Auf dem Weg ins finanzielle Schlamassel?, in: Der Bund, Nr. 251, 26. Oktober 1977, S. 15 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=DBB19771026-01.2.26.6
Zaugg, H.: Interimistische Eltern, in: Der Bund, Nr. 86, 14. April 1977, S. 9 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=DBB19770414-01.2.16.4
Autorinnenporträt
Tabitha Schmid, Primarlehrerin und Studentin im Master Erziehungswissenschaften an der Universität Zürich, forschte im Projekt «Was war bekannt?» im Rahmen eines Forschungspraktikums mit und war sowohl in der Datenerhebung/Recherche der Artikel als auch der Auswertung tätig.
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