Der Fall Karl Regez – «Eine Tragödie – kein Skandal»
Fazitbox
Im Beitrag wird beschrieben, wie die Leserschaft der Neuen Zürcher Zeitung und des Berner «Bundes» über den Suizid eines «Verdingkindes» im Jahre 1956 informiert wurde und welche Konsequenzen sich daraus ergaben. Es wurden sieben Berichte aus der Neuen Zürcher Zeitung und dem «Bund» zuerst einem Close Reading unterzogen und dann verglichen. Der Fall Karl Regez hatte die Öffentlichkeit berührt und es kam zu politischen Vorstössen im Grossen Rat des Kantons Bern. Diese führten zu weiteren Untersuchungen und Antworten, aber zu keinen rechtlichen oder politischen Änderungen.
Rubrik: Pflegefamilien in den Medien
Untersuchungszeitraum:1956
Medien: Neue Zürcher Zeitung, «Der Bund»
In diesem Bericht möchte ich einen Fall aus dem sogenannten Verdingwesen aufrollen, der über die Medien im Jahr 1956 grosse Wirkung entfaltete und zu verschiedenen Vorstössen in der Politik geführt hatte. Mehrere Zeitungen berichteten über den Suizid des «Verdingknaben» Karl Regez und berührten die Öffentlichkeit stark. Ich werde aufzeigen, wie die Öffentlichkeit über die Tageszeitungen informiert wurde und wie es zu einer politischen Debatte kam.
Das Leben des Karl Regez
Karl Regez wuchs mit seinen sechs älteren Geschwistern in einer Bergbauernfamilie im Kanton Bern auf. Die Verhältnisse wurden als «verwahrlost» und «bedenklich» beschrieben und der Jugendanwalt empfahl 1951 der Vormundschaftsbehörde, Karl auswärts unterzubringen. Die Pflegeeltern bekamen für den elfjährigen «Verdingknaben» ein Kostgeld von jährlich 200 Franken. Die Pflegefamilie beherbergte vor Karl bereits zwei Kinder. Der erste Knabe wurde der Pflegefamilie, welche im Besitz einer Pflegefamilienbewilligung war, nach drei Jahren wieder weggenommen. In einem früheren Bericht soll gestanden haben, dass er zu streng gehalten worden sei. Das zweite «Verdingkind» beendete kurz vor der Fremdplatzierung von Karl die Schule und verliess darauf die Pflegefamilie. Karl wurde von den Menschen, die ihn gekannt hatten, als intelligent, sympathisch, aber verschlossen beschrieben. Er musste auf dem Hof viel mithelfen, brachte die Milch jeweils vor und nach der Schule in die Käserei und half im Stall sowie auf dem Feld mit. Einmal pro Jahr besuchte ihn seine Mutter auf dem Hof. In den fünf Jahren bis zu seinem Tod durfte er nur ein Weihnachtsfest bei seiner Familie verbringen. Im Oktober 1955 verliess der leibliche Sohn der Pflegeeltern mit seiner Frau den Hof und so wohnte Karl allein mit seinen Pflegeeltern. Im Frühling 1956 hätte Karl eine Lehrstelle antreten sollen, die nicht seinen Wünschen entsprach, aber von den Pflegeeltern und dem Berufsberater als passend erachtet wurde (NZZ, 11.03.1956).
Am 1. Februar 1956 hatte der 16-jährige Karl seinen Pflegeeltern drei Hühner gestohlen und sich mit dem Erlös ein Sachbuch über Flieger gekauft. Der Pflegevater drohte dem Jungen nach Rücksprache mit dem Pflegekinderinspektor mit dem Jugendanwalt. Am Abend führte Karl wie immer den Hundekarren mit der Milch zur Käserei, kam dort aber nie an. Bei der nächtlichen Suchaktion der Polizei konnte er nicht gefunden werden. Erst am nächsten Morgen konnte der Junge in einem zwei Stunden entfernten Wagenschopf erhängt gefunden werden. Bei ihm wurde eine Abschiedskarte gefunden, die Karl an seine Eltern geschrieben hatte. Darin stand: «Wenn ich bitten darf, wäre ich froh, wenn ich in Boltigen beerdigt würde … Denkt, was ich gelitten habe …» (NZZ, 11.03.1956).
Die Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung
Der erste Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) erschien am 13. Februar 1956. In der Rubrik «Unglücksfälle und Verbrechen» wurde neben anderen Geschehnissen auch kurz über den «Freitod» des 16-jährigen Pflegeknaben Karl Regez berichtet. Nebst Schilderungen zur Lebenssituation und zu den Umständen des Todes wird auch eine Verbindung zu einem ähnlichen Fall im Kanton Bern hergestellt. Auch damals soll dem Suizid eines Pflegejungen ein kleiner Diebstahl vorangegangen sein.
Am 8. März folgte ein kurzer Artikel mit dem Titel «Die Verdingkindertragödie in Schwarzenburg». In diesem Artikel wird erläutert, dass der Untersuchungsbericht vorgelegt und über den Fall hinaus die Problematik des Pflegekinderwesens beleuchtet wurde. Es wird berichtet, dass Karl Regez weder in «krasser Weise» von den Pflegeeltern ausgebeutet noch körperlich misshandelt wurde. Daraus wird geschlossen, dass der Junge eher unter einer psychischen Vernachlässigung gelitten habe und daher eine hohe Anforderung an Pflegeeltern in Bezug auf das Einfühlungsvermögen gestellt werden müsse.
Drei Tage später, am 11. März 1956, erschien ein langer Bericht mit dem Titel «Die Tragödie eines Knaben». Es wird darauf hingewiesen, dass der Lebenslauf von Karl Regez deshalb so zentral für die Öffentlichkeit sei, weil er über den Einzelfall hinaus aufzeige, dass die Probleme im Pflegekinderwesen mit den bestehenden Verordnungen und Reglementen nicht gelöst werden könnten. Weiter wird darauf hingewiesen, dass etwa 6000 Kinder im Kanton Bern an einem Pflegeort wohnen und zahlreiche diese Zeit, so weit wie möglich, glücklich erleben und eine Berufslehre absolvieren können. Ausserdem wird aufgezeigt, dass auch Kinder Suizid begehen, die in der eigenen Familie aufwachsen würden. Über die Pflegeeltern wird berichtet, dass sie vom Alter her auch Karls Grosseltern sein könnten und sie wohl nicht in einer herzlichen Beziehung zu dem Jungen standen. Zum Schluss wird gefolgert, dass zahlreiche Faktoren zum Tod von Karl Regez geführt haben, die nicht alle über staatliche Aufsicht geregelt werden könnten. Das Jugendamt von Bern sei zu der Überzeugung gekommen, dass die kantonale Verordnung ausreiche, um den Schutz und die Betreuung der Pflegekinder zu gewährleisten, aber diese nicht überall eingehalten und umgesetzt werden würde. Es müsse ein Ziel sein, dass die Begutachtung des Pflegeplatzes auch die «geistige Struktur» des Kindes und die «Anpassungsfähigkeit» der Pfleger berücksichtige. Diese scheinen wichtiger als die materiellen Verhältnisse. Die 200 Franken Kostgeld werden als Sparmassnahme der Armenbehörde gesehen, da die Unterbringung in Heimen oder anderen Einrichtungen viel teurer ausfallen würde.
Die Berichterstattung im «Bund»
Der erste Artikel im Berner «Bund» erschien am 8. März 1956 – und damit später als in der NZZ, obwohl der Suizid im Kanton Bern stattgefunden hat. Es wurde am Anfang des Artikels, der den Titel «Eine Tragödie – kein Skandal» trug, darauf hingewiesen, dass viele Zeitungen bereits über den Fall berichtet hätten, aber die ungenauen Darstellungen zu vielen subjektiven Einschätzungen geführt hätten. Dies habe der «Bund» vermeiden wollen und darum werden erst jetzt, mit der Veröffentlichung der amtlichen Untersuchung, die Ergebnisse objektiv dargestellt. Bei der Beschreibung des Falls geht der «Bund» ähnlich vor wie die NZZ. Es werden der Tag des Suizides beschrieben und die Situation von Karl Regez’ Familie und seiner Pflegefamilie. Laut «Bund» und Bericht der Untersuchung liegt weder eine rechtliche Schuld bei den Pflegeeltern noch bei der Aufsichtsbehörde. Das Zusammenspiel zahlreicher Faktoren, wie die Veranlagung des Knaben, das «Milieu» des Elternhauses und der Pflegefamilie, die Pubertät und zuletzt die aufgedeckte Verfehlung, hätte zu diesem tragischen Tod geführt. «In dieser moralischen Schuld lebt fast jeder Mensch, sucht man sich doch meist selbstsüchtig Leid und Not der anderen Menschen vom Leibe zu halten» (Der Bund, 08.03.1956). Daraus wird geschlossen, dass die bestehende kantonale Verordnung zur Aufsicht über die Pflegekinder ein geeignetes Instrument sei und es nicht an den fehlenden Vorschriften, sondern an deren Umsetzung hapere. Es wird darauf hingewiesen, dass die Pflegeplätze sorgfältig ausgesucht werden müssen und die Passung zwischen Kind und Pflegeeltern zentral sei. Nicht nur die materiellen Bedürfnisse müssen gewährleistet werden, sondern auch die seelischen. Hier werden eine persönlichere Begleitung der Pflegekinder gefordert und ein Kostgeldminimum.
Die Rolle der Tageszeitungen
Die zwei Tageszeitungen reagierten zunächst unterschiedlich auf den Suizid von Karl Regez. Die NZZ berichtete in zwei kurzen Artikel neutral, sachlich und kurz über den Vorfall und die Untersuchungsergebnisse. Der «Bund» hielt sich lange mit einer Berichterstattung zurück und wartete auf den Untersuchungsbericht, um laut eigenen Aussagen eine möglichst ausführliche und sachliche Erläuterung veröffentlichen zu können. Die Artikel in der NZZ und dem «Bund» sind etwas unterschiedlich aufgebaut, aber widersprechen sich inhaltlich nicht. Zum Teil werden in einer der Zeitungen gewisse Beschreibungen genauer ausgeführt und andere nicht erwähnt. Beide Tageszeitungen vermischen Fakten aus dem Untersuchungsbericht und subjektive Eindrücke und Schlussfolgerungen derjenigen, die die Zeitungsartikel verfassten. Ebenfalls wird in beiden Zeitungen die Pflegesituation von Karl Regez als materiell ausreichend, aber sozial nicht genügend fürsorglich beschrieben. Die Pflegeeltern werden aber nie beschuldigt oder verunglimpft. Es wird ihnen höchstens vorgeworfen, eigennützige Interessen mit der Aufnahme von «Verdingkindern» verfolgt zu haben. Die provozierenden Ausdrücke, welche die Öffentlichkeit aufrütteln sollten, werden aber in Bezug mit der Aufsichtsbehörde, der kantonalen Verordnung und den Mitmenschen gebraucht: Hier wird von «Mängeln», «Versagen», «ungenügendem Kostgeld», «unnötiger Härte», «Erfüllung von Paragraphenbuchstaben» und «moralischer Schuld» geschrieben. Damit wird in der Berichterstattung auch der Weg bereitet, um politische Vorstösse zu lancieren. Die Vorschriften der kantonalen Verordnung des Pflegekinderwesens und die Aufsichtsbehörde werden durch den Fall Regez hinterfragt und im Grossen Rat der Berner Regierung über drei Interpellationen diskutiert.
Die politischen Debatten
Am 23., 24. und 27. Mai 1956 wurde im «Bund» die Beantwortung der drei eingegangenen Interpellationen zum Fall Regez in der Berner Regierung erläutert. Alle drei Interpellationen fragten nach einer Umsetzung oder einer Revision der bestehenden Verordnung und forderten eine Verbesserung der bestehenden Lage. Die Regierung hielt fest, dass die bestehende Verordnung genüge und ständig Anstrengungen unternommen werden, um die Umsetzung zu verbessern. Weiter wiesen mehrere sozialdemokratische Grossräte darauf hin, dass es an verschiedenen Stellen im Pflegekinderwesen Ungereimtheiten gebe. Diesen könne mit hauptamtlichen Inspektoren, einer konsequenten Durchsetzung der Bestimmungen und einer verstärkten Zusammenarbeit mit den Lehrpersonen entgegengewirkt werden. Zum Schluss hält der Rat fest, dass man wegen weniger negativer Fälle nicht verallgemeinern könne und die allermeisten Pflegeeltern ihrer Pflicht nachkämen.
Die Auswirkungen
Der Fall Karl Regez hatte keine unmittelbaren politischen Konsequenzen und die bernische Pflegekinderverordnung wurde nicht angepasst. Dennoch hatte der Fall die Öffentlichkeit berührt und eine Debatte in der Politik ausgelöst. Es kam jedoch erst im Jahr 1978, mit dem Inkrafttreten der Verordnung über die Aufnahme von Pflegekindern (PAVO), zu einer Änderung und einer gesamtschweizerischen Vereinheitlichung des Pflegekinderwesens. Der Schutz und die Integrität der Kinder standen in dieser Verordnung im Mittelpunkt.
Infobox: Verordnung über die Aufnahme von Pflegekindern (PAVO) 1978
Seit dem 19. Jahrhundertfindet sich in verschiedenen Gesetzen der Anspruch zu Kontrolle und Aufsicht von Pflege- und Heimkindern. Kantonale Armengesetze, später auch zahlreiche kantonale Einführungsgesetze zum Schweizerischen Zivilgesetzbuch, sahen ab 1912 eine gezielte Aufsicht und Kontrolle von Kindern und Jugendlichen vor, die nicht bei ihren Eltern lebten. Die Umsetzung liess lange auf sich warten. Die zuständigen Kantone waren zurückhaltend und es dauerte oft Jahrzehnte bis zur Umsetzung.
Wenn behördliche Aufsichtsgremien bestimmt wurden, dann beruhten diese nicht selten auf Freiwilligenarbeit, was ihre Durchsetzungskraft schwächte.
1978 trat die Verordnung über die Aufnahme von Pflegekindern (PAVO) in Kraft, dies auf der Grundlage des neuen Kindsrechts. Sie regelte erstmals gesamtschweizerisch die Kontrolle und die Aufsicht von Pflegeplätzen. Die PAVO führte zudem eine Bewilligungspflicht und damit eine Überprüfung der Pflegeeltern und Heimleitungen vor einer Fremdplatzierung ein (vgl. Leuenberger et al., 2011, S. 54–56).
Quellen
c.c.: Eine Tragödie – kein Skandal. Das Ergebnis der amtlichen Untersuchung über den Selbstmord eines Pflegeknaben in Schwarzenburg, in: Der Bund, Nr. 115, 8. März 1956, S. 3 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=DBB19560308-02.2.27
eaf: Unglücksfälle und Verbrechen – Freitod eines Pflegeknaben, in: Neue Zürcher Zeitung, Abendausgabe Nr. 413, 13. Februar 1956, S. 2 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=NZZ19560213-03.2.18
Graf, F.: Ausklang im Grossen Rat – Betrachtungen zur zweiten Sessionswoche des bernischen Grossen Rates, in: Der Bund, Nr. 242, 27. Mai 1956, S. 3 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=DBB19560527-01.2.12
Ohne Autor:in: Pflegekinderdebatte im Berner Grossen Rat – Pflegekinder-Interpellation, in: Der Bund, Nr. 236, 23. Mai 1956, S. 4 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=DBB19560523-02.2.29
Ohne Autor:in: Die Fortsetzung der Pflegekinderdebatte, in: Der Bund, Nr. 237, 24. Mai 1956, S. 3 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=DBB19560524-01.2.20.1
pz: Die Verdingkindertragödie in Schwarzenburg – das Untersuchungsergebnis, in: Neue Zürcher Zeitung, Abendausgabe Nr. 659, 8. März 1956, S. 9 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=NZZ19560308-03.2.27
pz: Die Tragödie eines Knaben – zum Selbstmord eines Verdingkindes in Schwarzenburg, in: Neue Zürcher Zeitung, Sonntagsausgabe Nr. 691, 11. März 1956, S. 7 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=NZZ19560311-01.2.50
Literatur
Leuenberger, Marco, Mani, Lea, Rudin, Simone & Seglias, Loretta: «Die Behörde beschliesst» – zum Wohl des Kindes? Fremdplatzierte Kinder im Kanton Bern 1912–1978. Baden: hier + jetzt 2011.
Autorinnenporträt
Karin Ganz, Primarlehrerin und Studentin im Masterstudium Erziehungswissenschaft an der Universität Zürich, Forschungspraktikum im Forschungsprojekt «Was war bekannt?» (Datenerhebung und -auswertung)
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