Was war bekannt … über den «Verdingbub» Paul Zürcher?
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Dieser Beitrag behandelt die Geschehnisse um den Tod des sogenannten Verdingbuben Paul Zürcher. Der Knabe starb an den Folgen der Misshandlung durch seine Pflegeeltern. Es wird beleuchtet, wie die Zeitungen über das Kind, die Pflegeeltern und die Lebensumstände berichteten und was sich daraus schliessen lässt. Je ein Artikel aus der Berner Zeitung «Der Bund» und der Neuen Zürcher Zeitung wurde einem Close Reading unterzogen und abschliessend interpretiert.
Rubrik: Pflegefamilien in den Medien
Untersuchungszeitraum: 1945
Medien: Neue Zürcher Zeitung, «Der Bund»
Wer war Paul Zürcher?
Paul Zürcher war ein sogenannter Verdingbub, welcher im Alter von fünf Jahren in der Obhut seiner Pflegeeltern verstorben ist (Der Bund, 26.02.1945). Er kam im Alter von viereinhalb Jahren gegen eine Entschädigung von 420 Franken zur Familie Wäfler. Bis zu seinem Tod lebte er bei den Eheleuten Wäfler und musste verschiedene Arbeiten im Haushalt übernehmen (NZZ, 02.10.1945). Über die leiblichen Eltern von Paul Zürcher wurde in den Tageszeitungen nicht viel geschrieben, sein Vater sei wegen Tierquälerei in Haft gewesen und habe sich wenig um die Kinder gekümmert.
Im vorliegenden Beitrag wird die Berichterstattung der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) und der Berner Zeitung «Der Bund» zum Schicksal und zum Tod von Paul Zürcher nachgezeichnet. Im Fokus der Berichterstattung der Tageszeitungen stehen vor allem die Umstände um den Tod des Jungen und die Pflegeeltern, welche im Herbst 1945 vor Gericht standen.
Paul Zürcher starb Ende Januar 1945. Es sei eine «Katastrophe» gewesen, berichtete die NZZ in ihrer Morgenausgabe vom 2. Oktober 1945 (ebd.). Neben Schlägen und körperlicher Züchtigung erlitt der Junge eine Blutvergiftung und seine Leiche wurde in einem abgemagerten Zustand gefunden. Es hiess in der NZZ, der Junge habe wegen grossen Hungers aus dem Hühnernapf gegessen und er habe regelmässig im Hühnerstall übernachten müssen (ebd.). Der «Bund» berichtete am 26. Februar über den «tragischen Tod», wie es im Titel heisst, des «Verdingbuben» und berichtete, dass der Junge bei seinem Tod lediglich dreizehn Kilo gewogen habe (Der Bund, 26.02.1945). Die Umstände um den Tod werden in den Tageszeitungen vor allem der Blutvergiftung, den Schlägen, dem ausgehungerten Zustand und verschiedenen Spuren von Erfrierung am Körper des Knaben zugeschrieben.
Wie wurde in den Tageszeitungen über den «Fall» berichtet?
Verschiedene Aussagen aus den beiden untersuchten Tageszeitungen zeigen deutlich, dass dem Jungen Empathie entgegengebracht wurde. Dies zeigt beispielsweise folgende Textstelle aus dem «Bund» vom 26. Februar 1945: «Wie der Bauer bei seinem Verhör aussagte, habe der Verdingbub ‹gschpunne›: er sei starrköpfig und eigenwillig gewesen, sonst hätte er nicht manchmal im Hühnerstall aus dem Fressnapf der Hühner Futter genascht. Wir möchten diese ‹Spinnerei› eher dem Hunger des Kindes zuschreiben» (ebd.). Hier lässt sich erkennen, dass die Autorenschaft Verständnis für das Verhalten des Kindes hatte und die Ursache nicht in der psychischen Verfassung von Paul Zürcher sah. Die Ursache seines Verhaltens wurde den Pflegeeltern zugeschrieben. Weiter wurde in den Zeitungsartikeln auch eine Vorstellung vom altersgerechten Umgang mit Kindern ausgedrückt. Der «Bund» schrieb am 26. Februar 1945: «So kam es, dass der Kleine in mehr als gutem Masse zu häuslichen Arbeiten herangezogen wurde, wobei, wie die entsetzlichen Spuren auf dem Körper verrieten, die Schläge vor dem Essen kamen» (ebd.). An dieser Textstelle lässt sich erkennen, dass eine Vorstellung darüber vorhanden war, wie der altersgerechte Umgang mit einem Kind sei. Es wird angedeutet, dass es eine Grenze gibt. Kinder brauchen auch Freizeit und Erholung. Von einem «Verdingbuben» könne zudem nicht das gleiche Mass an häuslicher Beteiligung erwartet werden wie von einem Erwachsenen. An dieser Textstelle lässt sich also erkennen, dass ein Verständnis darüber vorhanden war, dass dieser Junge eines besonderen Schutzes bedürfe (NZZ, 02.10.1945).
In den Quellen zum «Fall» des Paul Zürcher lassen sich nicht nur Aussagen über das Kind finden. Es wurde auch auf die Pflegeeltern eingegangen. Diese wurden als «Rabeneltern» bezeichnet (ebd.). Die NZZ vom 2. Oktober 1945 beschrieb die Eltern als «[b]is zu dem traurigen Vorkommnis gut beleumdet» und als Mitglieder der evangelischen Gemeinschaft. Die religiöse Komponente wurde hier im Artikel erwähnt und wollte möglicherweise darauf hindeuten, dass niemand wissen konnte, dass diese Eheleute sich als grausame Menschen entpuppen würden (ebd.). Die Pflegemutter wurde zudem als «neurotisch» und mit einem «hypochondrischen Einschlag», welcher sich durch eine Schwangerschaft ausgeprägt habe, beschrieben. Auch hier wurde deutlich gemacht, dass Gründe für die tragischen Vorkommnisse nicht vorhersehbar waren, sondern aufgrund Veränderungen der familiären Entwicklungen geschahen. Anhand der folgenden Textstelle wird erkennbar, dass der:die Autor:in die Eltern dafür verurteilte, dass sie das Kind als psychisch krank oder «gestört» bezeichneten: «Auch dieses Verhalten des Kindes schrieben die Rabeneltern der Eigenwilligkeit, dem Trotz zu. Wahr ist, dass der Kleine aus körperlicher Schwäche, Hunger und Schmerz die Arbeit nicht verrichten konnte.» Der:die Verfasser:in deutete jedoch darauf hin, dass das Verhalten des Kindes direkt in Zusammenhang damit stand, wie es von seinen Pflegeeltern behandelt wurde. Dies scheint besonders interessant, da offenbar ein Verständnis dafür vorhanden war, dass psychologische Auffälligkeiten darauf zurückgeführt werden können, welche Erfahrungen jemand macht. Dies verdeutlicht folgendes Zitat: «Auch diese suchte der Bauer dem ‹Nicht-ganz-recht-im-Kopf-sein› des Knaben zuzuschreiben: dieser habe in seiner ‹Spinnerei› den Kopf an die Wand geschlagen, bis er geblutet hätte. Im späteren Verlauf des Verhörs gab der Mann dann zu, er habe den Knaben oft geschlagen. Am Hals des Kindes war ein grosser Abszess und die Kleider dick mit Eiter besudelt» (Der Bund, 26.02.1945).
In den Zeitungsartikeln lassen sich zudem Aussagen mit einer politischen Komponente auffinden: So wurde beispielsweise im «Bund» geschrieben, dass dieser «Fall» tieftraurig und «unserer sozialen Schweiz unwürdig» (ebd.) sei. Auch folgende Textstelle lässt einen Bezug zur Politik erahnen: «Das wäre nun der zweite ‹Fall Chrigel›. Er ist noch grauenhafter als der erste, und er hat sich nicht ‹irgendwo›, sondern in unserm fortschrittlichen Kanton Bern ereignet» (ebd.). Der erste «Fall», auf den die Textstelle Bezug nimmt, handelte vom «Verdingbuben» Ernst Eberhard (genannt Chrigel), welcher von seinen Pflegeeltern sexuell missbraucht wurde. An diesem Zitat lässt sich erkennen, dass der Umgang mit dem «Verdingbub» Paul Zürcher für die Autorenschaft des Artikels ein rückständiges Verhalten gewesen sei. Es wird gesagt, dass in einem «fortschrittlichen» Kanton Kinder nicht unter Hunger, massiven Körperstrafen und übermässigem Arbeiten im Haushalt leiden sollten.
Die Betrachtung der Medienberichterstattung soll nicht ausser Acht lassen, dass sich darin Aussagen finden, welche möglicherweise eine manipulierte, dramatische Komponente aufweisen. Der «Bund» veröffentlichte folgende Textstelle: «Mag auch die Todesursache ‹Allgemeiner Schwächezustand› oder ähnlich heissen, sie kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Kind nicht ‹von selber› gestorben ist» (ebd.). Anzumerken ist, dass diese Bewertung vor der Verhandlung vor Gericht veröffentlicht wurde und die Analyse der Autorenschaft darstellt. Die Annahme, dass einige Aussagen zugunsten einer empörten Leserschaft zugespitzt wurden, darf bei der Arbeit mit diesen Quellen nicht vernachlässigt werden.
Fazit
Zusammenfassend betrachtet, lässt sich feststellen, dass in den untersuchten Tageszeitungen in erster Linie Mitgefühl gegenüber dem verstorbenen Kind zum Ausdruck gebracht wurde. Das Schicksal des Paul Zürcher wurde mehrmals als «traurig» und «tragisch» bezeichnet. Für das Verhalten des Kindes vor seinem Tod wurde vor allem im «Bund» Verständnis und Empathie entgegengebracht. Es wurde geschildert, wie seine von den Pflegeeltern als abnormal bezeichneten Verhaltensweisen in direktem Zusammenhang mit der Strenge der Eltern, den körperlichen Strafen und dem ständigen Hunger standen (ebd.). Bei der NZZ lässt sich in kleinen Nuancen eine gewisse Rechtfertigung interpretieren. Die Zeitung verwies in Nebensätzen darauf, dass die angeklagten Pflegeeltern bis zur Veröffentlichung dieser Geschehnisse einen guten Ruf hatten und in der evangelischen Gemeinschaft aktiv waren (NZZ, 02.10.1945). Die Geschichte des Paul Zürcher zeigt zudem, dass über Missstände und tragische Ereignisse im Pflegekinderwesen in der Schweiz in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einiges bekannt war. Denn in den Artikeln über Paul Zürcher wurde auch ein anderer tragischer Fall erwähnt, und zwar der des «Verdingbuben» Ernst Eberhard (genannt Chrigel). Über die Lebensumstände und den Tod des Paul Zürcher wurde in den Tageszeitungen detailliert und über mehrere Monate hinweg berichtet. Somit kann davon ausgegangen werden, dass der tragische Tod des «Verdingbuben» Paul Zürcher reichlich bekannt war.
Quellen
Ohne Autor:in: Tragischer Tod eines Verdingbuben, in: Der Bund, Morgenausgabe Nr. 95, 26. Februar 1945, S. 4 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=DBB19450226-01.2.26
Ohne Autor:in: Der Verdingbub von Frutigen, in: Neue Zürcher Zeitung, Morgenausgabe Nr. 1476, 2. Oktober 1945, Blatt 1 www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=NZZ19451002-01.2.18
Autorinnenporträt
Jill Alchenberger, geb. 1993, Berufsschullehrerin und Studentin im Master Erziehungswissenschaft an der Universität Zürich, forschte im Projekt «Was war bekannt?» zu Themen der Pflege- und Heimkinder in den 1940er-Jahren.
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